Nachbarschaft

Veröffentlicht am 20.10.2020 von Masha Slawinski

Der Verein Gangway e.V. macht stadtweit Straßensozialarbeit mit Jugendlichen. Das Marzahner Team besteht aus Thomas, Sindy und Uwe, dem „Alterspräsidenten“. Er arbeitet bereits seit 26 Jahren im Bezirk. Sindy ist seit 2003 dabei. Thomas ist vor zweieinhalb Jahren als Quereinsteiger dazugekommen.

Das Marzahner Gangway-Team hat ein Kontaktbüro, wo es jeden Mittwoch von 14.30 bis 17 Uhr Sprechstunden anbietet. In der Nähe betreibt es zudem eine Fahrrad- und eine 3D-Werkstatt. Zweimal wöchentlich betreut das Team den „Roten Skatepark“, den Marzahner Jugendliche 2017, unterstützt von Gangway, erfolgreich besetzten. Ich habe mit den Dreien gesprochen und dabei gemerkt: Jugendarbeit ist weitaus mehr als ein Beratungsangebot.

Was für Ziele verfolgt Ihr mit eurer Arbeit? Sindy: Wir sind hauptsächlich auf der Straße unterwegs, auf Hinterhöfen und Plätzen, zu Fuß oder mit dem Fahrrad. Das nennt sich aufsuchende Jugendsozialarbeit. Wir gucken, wo sich Jugendliche treffen, im Sommer natürlich draußen und im Winter an Orten wie das Eastgate. Dann heißt es, dass wir sie ansprechen und uns vorstellen. Unser Ziel ist, mit Jugendlichen, die Probleme haben oder sich nicht so zugehörig fühlen, auf der Suche nach einer Ausbildung sind oder von Zuhause ausziehen wollen, eine Beziehung aufzubauen. Wir wollen für sie als Ansprechpartner in Frage kommen. Man sagt immer so schön: Integration in die Gesellschaft.

Wer ist denn eure Zielgruppe? Sindy: Laut Kinder- und Jugendhilfegesetz sind Jugendliche 14 bis 27 Jahre alt. Der Großteil unserer Klienten ist so 15 bis 22,und es sind mehr männliche Jugendliche als weibliche. Das liegt auch daran, dass wir seit Jahren die Funsport Szene begleiten, Stunt Scooter, BMX, Skateboard, das spricht meistens Jungs an. Die Mädchen sind eher Freundinnen oder Zuschauer.

Wie trefft ihr die Jugendlichen? Uwe: Wir machen regelmäßig zu verschiedenen Zeiten Rundgänge, eigentlich immer zu zweit und mit Hund. Mit der Zeit kriegt man ein Gefühl, wo es brenzlig wird, wo sich die Nachbarn schon beschwert haben, oder man kriegt vom Jugendamt einen Hinweis, ‘da treffen sich 30 Jugendliche und machen jeden Abend Remmidemmi ’. Wir versuchen, das dann anzugehen und meist kennen wir den ein oder anderen, der Türöffner für die Gruppe ist. Natürlich drängen wir uns nirgendwo auf. Klar gibt es auch Leute, die sich treffen und ganz gechillt ein Feierabendbierchen trinken, da macht man bestenfalls Shakehands und geht dann wieder. Wegen Corona geht das Händeschütteln aber nicht mehr. Dabei geben wir üblicherweise jedem die Hand und gucken ihm in die Augen. Das ist ein Mittel, um das Eis zu brechen. Wir sind zuerst Fremde für die Jugendlichen, und ich bin auch noch deutlich älter als sie.

Wie arbeitet ihr mit den Jugendlichen? Uwe: Um die jungen Leute näher kennenzulernen, muss man gemeinsame Erlebnisse schaffen. Zum Beispiel Go-Kart-fahren. Klar haben Jugendliche Lust darauf. Wir haben einen Transporter, in den wir acht Leute reinsetzen können, fahren zur Go-Kart-Bahn und schon öffnet sich eine neue Tür. Wir ermöglichen den Jugendlichen Dinge, die ihnen ihre Eltern nicht ermöglichen können oder wollen. Wobei man von Eltern oft nicht reden kann, oft ist es eine alleinerziehende Mutter, die überfordert ist. Das ist, glaube ich, hier der Bezirk mit den meisten Alleinerziehenden und das merkt man auch. Die Väter fehlen den Jungs. Damit das Großwerden gelingt, braucht es aber auch eine männliche Bezugsperson. Die Jungs kommen aus der Kinderkrippe, aus der Schule und haben noch nie ein männliches Vorbild gehabt, außer vielleicht irgend so einen Hiphop-Atzen. Es fehlen gute männliche Vorbilder, daraus entstehen ganz viele andere Probleme.

Thomas: Für Mädchen ist es sicher auch ein Problem, aber für Jungs ist es besonders schwer, wenn männliche Vorbilder einfach wechseln oder beim ersten Problem abhauen. Und das wiederholt sich, der Junge geht raus, macht ein Kind und beim ersten Problem rennt er weg. Es ist wichtig, dass man als Junge selbstbewusste Männer in seinem Leben hat. Und so eine Rolle nimmt man dann manchmal ein.

Kommen Jugendliche von selbst auf euch zu? Uwe: Es ist alles freiwillig, also niemand wird hierher geschickt. Manche kommen zu uns, wenn der Leidensdruck so groß ist, dass sie nicht mehr weiterwissen. Wir haben das niedrigschwelligste Angebot. Hier kann jeder herkommen, wir sortieren nicht aus oder sagen, du bist ja schon älter als 27. Wir suchen für ihn oder sie dann eine passende Lebensberatung oder eine andere Lösung. Das ist auch mal kreativ und sportlich, denn es gibt halt nicht für jeden Menschen die gleiche Lösung. Deshalb mache ich das schon so lange, weil es jeden Tag etwas anderes ist.

Was gibt es für Freizeitaktivitäten für Jugendliche in Marzahn? Uwe: Abends werden hier die Bürgersteige hochgeklappt. Hier gibt es keinen, der seine Stühle auf den Bürgersteig stellt. Es gibt eine Dönerbude, aber da sitzen halt ein paar Trinker. Das Leben spielt sich Zuhause ab, in den Wohnungen. Clubs gibt es nicht, wenn man das Geld hat, fährt man in die Innenstadt. Ein großer Magnet ist der Skatepark, der „rote Skatepark“, so nennen ihn die Jugendlichen. Mittlerweile haben wir da zwei Generation von Jugendlichen durchgeschleust. Vom Bezirk gab es mal Geld, um den Skatepark auszubessern und neu aufzubauen.

Wir sind immer dabei, die Interessen der Jugendlichen vor der Politik und den Geldgebern zu vertreten. Die Jugendlichen haben oft keine Stimme. Im Zweifelsfall sagen die, ‘ach leck mich doch’, und wir versuchen, ein bisschen Lobbyarbeit für sie und ihre Interessen zu machen. Verwaltungsprozesse sind langwierig. Wenn wir sagen, wir wollen hier einen Skatepark haben oder einen Pavillon, damit wir nicht im Regen stehen müssen, und dann dauert das halt drei Jahre, da sind die Leute abgefressen und haben andere Interessen. Aber irgendwann wird gebaut und dann hat die nächste Generation Jugendlicher was davon.

Wie hat sich Marzahn-Hellersdorf in den letzten Jahren verändert? Uwe: Marzahn- Hellersdorf war ja das Prestigeobjekt der DDR, das Ende der 70er, Anfang der 80er gebaut wurde, als die größte zusammenhängende Neubausiedlung in Europa. Damals war es was ganz Besonderes hier zu leben: eine Wohnung mit Zentralheizung, fließend Warmwasser und Fahrstuhl. Das war ein Privileg.

Thomas: Ich denke es waren eher angepasste Menschen, die hier lebten, also verdiente Funktionäre, Lehrer, Ärzte. Ab 89 ging es mit dem Ruf steil bergab.

Mit wie vielen Jugendlichen steht ihr im Kontakt? Uwe: Es schwankt. Manche sieht man ein oder zwei Mal und das reicht dann auch. Einige sieht man mehrmals die Woche. Im Schnitt kommen wir im Jahr auf 130 bis 150, rechnet man die Jugendlichen ein, die wir über Fußballturniere oder Contests in Skateparks treffen. Mittwoch ist immer unsere offene Beratungszeit. Da kommen auch Eltern, die sich Sorgen machen oder Lehrer, Schulsozialarbeiter oder auch Jugendliche über die sozialen Netzwerke, die wir nicht erst seit der Corona-Pandemie intensiv nutzen, um mit den Jugendlichen in Kontakt zu treten.

Das Kontaktbüro von Gangway Marzahn befindet sich in der Marzahner Promenade 24. junge Menschen mit Problemen können via Instagram, Facebook oder Whatsapp oder per Mail via marzahn@gangway.de mit Thomas, Sindy oder Uwe in Kontakt treten. Wer Gangway unterstützen möchte, kann an folgendes Konto spenden:

Bank für Sozialwirtschaft:
IBAN: DE16 1002 0500 0003 0576 00
BIC: BFSWDE33BER

Wer soll hier als nächstes vorgestellt werden? Sie selbst? Jemand, den Sie kennen? Wir freuen uns auf Ihre Vorschläge unter: masha.slawinski@tagesspiegel.de

Dieser Beitrag stammt aus dem Tagesspiegel-Newsletter für Marzahn-Hellersdorf. Die Newsletter für alle 12 Berliner Bezirke gibt es kostenlos und in voller Länge hier: leute.tagesspiegel.de

Hier die Themen aus dem aktuellen Marzahn-Hellersdorf-Newsletter:

  • Randale vor AfD-Parteitag
  • Grüne und SPD fordern: Marzahn-Hellersdorf soll LGBTQI-freundlicher werden
  • Streit bei den Jusos: Vorstand John Reichel ist zurückgetreten
  • Vorwurf vom ADFC: Das Straßen- und Grünflächenamt stellt sich Tempolimits in den Weg Projekt „Grüne Klimaoase“ Marzahn-Hellersdorf beendet
  • Generationsübergreifende Wanderung vom Stadtteilzentrum Karlshorst
  • Mark Twain Bibliothek: Tango von Piazzolla & Co und Lesung vom Wissenschaftsjournalisten Kai Kupferschmidt
  • „Fette-Reifen-Rennen“ für Kinder