Nachbarschaft
Veröffentlicht am 26.01.2021 von Paul Lufter

Tilmann Pfeiffer, Sozialarbeiter bei der Selbsthilfe Marzahn-Hellersdorf. Die Selbsthilfe-, Kontakt- und Beratungsstelle ist eine einzigartige Einrichtung im Bezirk. Im Durchschnitt melden sich pro Jahr 1500 und 2000 Interessent*innen dort, um eine Selbsthilfegruppe zu finden. Denn dafür ist die Selbsthilfe da. Sie unterstützt Personen mit Erkrankungen oder in sozialen Notlagen dabei, Selbsthilfegruppen zu finden, zu besuchen oder zu gründen. Das Angebot „kostet nix, nur die eigene Überwindung“, wie es auf der Facebook-Seite der Einrichtung heißt.
„Wir vermitteln den Menschen passende Gruppen“, erklärt Pfeiffer. Wenn es eine Gruppe zu einem bestimmten Thema noch nicht gibt, wird – wenn es genug Personen mit Bedarf gibt – eine gegründet. „Wir geben eine methodische Anleitung und halten über ein oder zwei Gruppensprecher Kontakt. So erfahren wir, was gebraucht und gewünscht wird.“ Zudem stellt die Selbsthilfe ihre Räumlichkeiten zur Verfügung. Von den aktuell rund 100 aktiven Gruppen trifft sich ein Großteil dort.
Selbsthilfegruppen sind keine Therapiegruppen. Das sei ein wichtiger Unterschied, so Pfeiffer. „Deshalb erfolgt auch keine Anleitung.“ Es gehe vor allem um den Austausch mit anderen. „Es hilft, sich über Kernthemen auszutauschen.“ Die Selbsthilfe könne eine Therapie nicht ersetzen. „Unser Angebot kann eine Therapie aber sinnvoll begleiten“, erklärt Pfeiffer. Ähnliche Einrichtungen wie die in Marzahn-Hellersdorf gibt es auch in anderen Bezirken. Die Zentrale der Selbsthilfe ist in Berlin der Dach- und Fachverband der Berliner Selbsthilfekontaktstellen Selko. Gefördert wird das Projekt nicht vom Bezirk, sondern unter anderem vom Senat.
Grob lassen sich die Gruppen in drei Themenbereiche aufteilen: körperliche Erkrankungen, Suchterkrankungen und psychosoziale Erkrankungen. Laut Pfeiffer nimmt der Bedarf bei den körperlichen Erkrankungen leicht ab, während die Nachfrage bei den Gruppen mit psychosozialen Erkrankungen wächst. Hat das was mit Corona zu tun? Pfeiffer ist sich nicht sicher. „Der Zustrom ist ungebrochen“, berichtet er, aber natürlich habe die Pandemie psychische Erkrankungen befeuert.
„Es gibt eine gesamtgesellschaftliche Unsicherheit“, erklärt er. „Viele Leute, die sich ein System an Kontakten aufgebaut hatten, verloren dieses in der Pandemie wieder.“ Die Folge sei Isolation. „Wir werden oft angerufen, weil die Menschen sonst einfach alleine sind. Diese suchen dann nach irgendeiner Gruppe.“ Zwar kann Pfeiffer das verstehen, aber der Gedanke der Selbsthilfe trete dabei in den Hintergrund. „Es ist manchmal schwierig, das aufzufangen.“
Was ihm jedoch mehr Sorge bereitet, ist der Zusammenhalt der von Gruppen. „2020 haben wir acht verloren“, erzählt Pfeiffer. „Diese Gruppen haben den Lockdown nicht überstanden und sind zerbrochen.“ Gerade im ersten Lockdown, als die Selbsthilfe ihre Räumlichkeiten schließen musste, seien Treffen ausgefallen. „Aktuell haben wir geöffnet und ich hoffe, dass das so bleibt.“ Es gebe aber auch Gruppen, die sich seit Jahren oder sogar Jahrzehnten treffen, erzählt Pfeiffer.
Trotz der Öffnung bleibt die Lage schwierig. Wegen Abstandsregeln sind aktuell nur drei von sechs Räumen im Haus nutzbar. Zudem sind maximal zehn Personen pro Treffen erlaubt. Die Neustrukturierung sei nicht leicht gewesen, erklärt Pfeiffer. „Keine Gruppe trifft sich mehr zu ihren ursprünglichen Zeiten.“ Zudem würden Gruppen, die sich sonst in Nachbarschaftstreffs oder ähnlichen Einrichtungen versammeln, jetzt auch zu ihnen kommen, da die anderen Treffpunkte pandemiebedingt schließen mussten.
Tilmann versucht deshalb, Treffen im virtuellen Raum zu fördern. Besonders bei Gruppen mit körperlichen Erkrankungen sei die Bereitschaft dafür hoch da viele große Angst vor einer Erkrankung am Corona-Virus haben, wie Pfeiffer erklärt. „Die Suchtgruppen und die Gruppen mit psychosozialen Schwerpunkten bevorzugen aber weiterhin den persönlichen Kontakt.“ Er habe deshalb versucht, Hybridveranstaltungen einzurichten, bei denen Personen, die nicht persönlich erscheinen wollen, online zugeschaltet werden können.
Aktuell ist Pfeiffer der einzige feste Mitarbeiter vor Ort. Eigentlich gehört zur Einrichtung noch eine halbe Stelle, die jedoch seit Anfang des Jahres nicht besetzt werden kann, wie Pfeiffer erzählt. Neugründungen von Gruppen seien deshalb gerade schwierig. „Die müssten digital stattfinden und gerade bei der Anleitung wäre der Arbeitsaufwand sehr hoch.“
Pfeiffer bleibt jedoch optimistisch. „Schließlich machen wir unsere Mitglieder resilient“, erklärt er. Falls Sie selber nach einer Selbsthilfegruppe suchen, eine Übersicht der Angebote und die Kontaktinformationen der Selbsthilfe finden Sie unter sekis-berlin.de. – Foto: Tilmann Pfeiffer
Wer soll hier als nächstes vorgestellt werden? Sie selbst? Jemand, den Sie kennen? Wir freuen uns auf Ihre Vorschläge unter: leute-i.salmen@tagesspiegel.de