Nachbarschaft
Veröffentlicht am 16.03.2021 von Ingo Salmen

Hürrem Tezcan-Güntekin, 43, ist seit 2017 Professorin für Public Health an der Alice-Salomon-Hochschule (ASH) in Hellersdorf. Zudem unterrichtet sie an der Berlin School of Public Health, einer gemeinsamen Einrichtung von ASH, Charité und Technischer Universität. In dieser Woche stellt sie beim Berliner Kongress „Armut und Gesundheit“ ihre Studie über den Umgang von Notaufnahmen in Krankenhäusern mit den Opfern häuslicher und sexualisierter Gewalt vor. Wir haben zuvor mit ihr darüber gesprochen.
Häusliche Gewalt ist seit Beginn der Coronakrise ein besonders großes Thema. Was können Sie darüber sagen? Es gibt inzwischen erste Studien, die zeigen, dass Gewalt gegen Frauen in der Coronakrise zugenommen hat. Auch Beratungsstellen haben mehr Zulauf, wobei die telefonische Beratung teilweise ein Problem darstellt, weil Betroffene nicht so leicht anrufen können, wenn sie ständig mit der Partner*in zu Hause zusammen sind. Unsere Studie erfasst diesen Teil aber nicht: Die Datenerhebung ging von Ende 2019 bis Februar 2020, kurz vor der Krise.
Was haben Sie herausgefunden? Wir haben 28 Kliniken befragt. Die Bereitschaft bei ihnen ist auch sehr groß, eine gute Versorgung zu leisten. Trotzdem haben wir festgestellt, dass nur ein Drittel über Versorgungskonzepte mit standardisierten Behandlungsanweisungen für Opfer häuslicher und sexualisierter Gewalt verfügen – dabei sind die seit 2016 im Berliner Krankenhausplan vorgeschrieben. Diese Gewalterfahrungen werden auch nur in wenigen Notaufnahmen routinemäßig abgefragt. Genau das ist aber die Voraussetzung, um weitere Hilfen zu veranlassen, ob es nun psychologische Unterstützung, HIV-Prävention oder die Pille danach ist. In vielen Krankenhäusern wird auch keine gerichtsverwertbare Dokumentation durchgeführt. Das kann natürlich auch daran liegen, dass keine Gynäkologie in der Klinik vorhanden ist, ist für die Betroffenen aber katastrophal. Vieles ist der individuellen Einschätzung und Entscheidung des Personals überlassen.
Sie haben auch geschlechterspezifische Aspekte untersucht. Welche Probleme haben Sie dort entdeckt? Die Behandlung ist abhängig vom Geschlecht: Männer und LGBTIQ*-Personen werden als Opfer von Gewalt in Paarbeziehungen seltener in Erwägung gezogen als Frauen. Keine Klinik hat angegeben, dass sie auf die Versorgung von LGBTIQ*-Personen vorbereitet ist – obwohl das eine Bevölkerungsgruppe ist, die sehr viel stärker von sexualisierter Gewalt betroffen ist als andere. Es fehlt zum Beispiel an einer Sensibilisierung beim Umgang mit trans Personen. Das finden wir für Berlin schockierend. Auch kann nur ein Viertel der Kliniken eine geschlechterspezifische Auswahl von Ärzt*innen gewährleisten, wenn eine gewaltbetroffene Person die Notaufnahme aufsucht.
Gab es sonst noch überraschende Befunde? Viele Kliniken können zwar Patient*innen aufnehmen, die Gewalt erlebt haben, nicht alle können jedoch deren Kinder mit aufnehmen. Das ist ein Problem, weil sie dann oft mit dem oder der Partner*in zu Hause zurückbleiben und selbst in Gefahr sind.
Ist das dann nicht eine Sache fürs Jugendamt? Grundsätzlich ja. Die Angst, dass eventuell das Jugendamt informiert wird, kann für gewaltbetroffene Menschen aber auch eine Barriere darstellen, überhaupt die Notaufnahme aufzusuchen.
Eine große Bereitschaft, angemessen zu helfen, aber eine unzureichende Umsetzung der Vorgaben – wie erklären Sie sich diese Diskrepanz? Es fehlen in den Kliniken Schulungen und Fortbildungsmöglichkeiten, die beispielsweise S.I.G.N.A.L. e.V. seit vielen Jahren anbietet, aber dafür muss Personal freigestellt werden, was schwierig ist bei einer dünnen Personaldecke. Es fehlt auch an Zuständigen in den Kliniken, die sich um dieses Thema kümmern und sicherstellen, dass es Konzepte gibt. Und die Konzepte dürften nicht nur im Krankenhausplan vorgeschrieben sein, ihre Umsetzung müsste auch tatsächlich überprüft werden. Insgesamt ist dieses Thema noch nicht gut erforscht, weshalb wir bereits eine Folgestudie konzipiert und gerade auch bewilligt bekommen haben. Wir möchten dafür Menschen, die Gewalt erlebt haben, und Versorgende in einem partizipativen Ansatz zusammenbringen. Gern würden wir dafür auch mit dem Unfallkrankenhaus in Marzahn-Hellersdorf zusammenarbeiten.
- Die von der Gesprächspartnerin verwendete Abkürzung LGBTIQ* bezeichnet die Selbstdefinitionen Lesbian, Gay, Bi, Trans, Inter und Queer, wobei das Sternchen auch alle weiteren Formen einschließen soll.
- Gewalt gegen Frauen war auch schon zweimal Thema im Tagesspiegel-Podcast Gyncast: In einer Folge aus dem September ging es zentral um sexualisierte Gewalt (hier zu finden, mit zahlreichen Hinweisen auf Beratungsstellen und Literaturempfehlungen), in einer Folge im Dezember kam häusliche Gewalt als eine von mehreren Auswirkungen der Coronakrise zur Sprache (hier zu finden).
Wer soll hier als nächstes vorgestellt werden? Sie selbst? Jemand, den Sie kennen? Wir freuen uns auf Ihre Vorschläge unter: leute-i.salmen@tagesspiegel.de