Nachbarschaft

Veröffentlicht am 09.07.2024 von Christina Heuschen

Noch ist es ruhig in der Tangermünder Straße 2a, die Türen sind geschlossen. Davor stehen Caroline W. und Catía S., unterhalten sich. Beide möchten nicht mit vollem Namen genannt werden. Sie arbeiten für den „Hella-Klub für Mädchen und junge Frauen“ – von allen nur Hella genannt. Vom Ende der Straße rufen ihnen plötzlich drei Kinder zu, die gerade aus der Schule kommen. Sie laufen auf die beiden zu, umarmen sie, erzählen von ihrem Tag – ein Erlebnis nach dem anderen.

In der Hella treffen sich Mädchen, junge Frauen, trans*, inter* und nicht-binäre Jugendliche. Der Jugendclub bietet nicht nur einen sicheren Ort in Hellersdorf, die Sozialarbeiter*innen stärken die Jugendlichen darin, sie selbst zu sein. Es ist eine feministische Erfolgsgeschichte.

Caroline W. arbeitet seit fünf Jahren in der Hella. Sie hat so einige Kinder in dem Jugendclub aufwachsen sehen. „Es ist nicht in allen Jugendeinrichtungen so, dass es eine sehr starke Bindung an den Ort gibt. Wenn die Besucher*innen kommen, dann kommen sie meist täglich. Manche kommen jahrelang“, sagt sie. Das bestätigt auch ihre Kollegin. Gemeinsam stärken sie die Besucher*innen darin, autonom zu werden, sagt Catía S. Sozialarbeiter*innen könnten das in größeren Einrichtungen oft nicht leisten.

Die Hella bietet Mädchen, jungen Frauen, trans*, inter* und nicht-binären Jugendlichen einen sicheren Ort, an dem sie einfach sie selbst sein und sich ausprobieren und können – ohne die prüfenden Blicke oder Kommentare anderer. „Es ist sehr wichtig, dass es eine Sensibilität und ein Empowerment für queere Identitäten, Identitäten von People of Color oder Menschen, die Rassismus erfahren, gibt. Das muss in mehr Einrichtungen passieren. Es darf nicht nur ein Lippenbekenntnis sein“, erklärt Catía S.

Tatsächlich erzählen die Besucher*innen den Sozialarbeiter*innen sowohl von positiven als auch von negativen Erlebnissen – von neuen Freund*innen, ihren ersten Beziehungen, Problemen in der Schule, Mobbing, Diskriminierung oder wenn sie Gewalt erlebt haben. Wer möchte, erhält eine psychosoziale Beratung.

Die Kinder und Jugendlichen können jederzeit Fragen stellen, auch anonym. Dafür gibt es eine kleine selbstgebastelte Box, die auf einem Regal in einem der Aufenthaltsräume steht. Wenn eine Person etwas wissen möchte, kann sie die Frage dort hineinwerfen. Manchmal stellen sie Fragen zum eigenen Körper, manchmal geht es um die eigene Identität. Die Sozialarbeiter*innen greifen alle Fragen auf und beantworten sie. Das geschieht beispielsweise in der Gruppe wie in dem sexualpädagogischen Projekt „Herz, Bauch, Kopf“ oder in Einzelgesprächen. Was Catía S. besonders freut ist, dass Jugendliche oft den Mut entwickeln, sich zu äußern. Wenn jemand eine andere Person beschimpfe, wiesen andere die Person daraufhin und erklären, was das Problem sei.

Doch in der Hella geht es nicht nur um Beratung, hier finden die Kinder und Jugendlichen Vorbilder. Nur wenige Meter von der Fragebox entfernt hängen an einer Wand um die 50 Fotos von Menschen, die sie im „Queer Café“ recherchiert haben. Darunter sind die Journalistin Nemi El-Hassan, die Schauspielerin Lea DeLaria, die Mathematikerin Katherine G. Johnson. Allen ist gemein, dass sie nicht den gesellschaftlichen Rollenerwartungen entsprechen und ihren eigenen Weg gegangen sind. „Es braucht viel mehr geschlechtsspezifische Arbeit in allen Jugendfreizeiteinrichtungen. Es reicht nicht, wenn es nur einen Ort (wie die Hella) gibt. Das muss überall passieren. Wir sehen aber, dass es in der Realität nicht so ist“, findet Caroline W. Auch für Jungen und Männer müsse es solche Angebote geben.

Die pädagogischen Projekte in der Hella richten sich nach den Bedürfnissen der Besucher*innen, sagt die Sozialarbeiterin. Und die Mitarbeiter*innen nehmen die Kinder ernst. Jeden ersten Dienstag im Monat findet die Hella-Versammlung statt. Dort können sie Wünsche äußern. Gemeinsam überlegen sie dann, wie sie etwas ändern können. Wenn es nicht funktioniert, erklären die Mitarbeiter*innen dies. Manchmal liegt es einfach am Geld. Tatsächlich wechseln die Angebote regelmäßig. Die Kinder und Jugendlichen können basteln, tanzen, boxen, Theater spielen. Wer darauf keine Lust hat, kann Computer nutzen, die Hausaufgaben machen oder einfach mal in der Sofaecke abhängen. Mittags kochen alle zusammen.

In die Tangermünder Straße 2a kommen junge Menschen zwischen zehn und 22 Jahren, dienstags können auch Kinder ab acht Jahren reinschnuppern. Viele kommen, weil sie von Freund*innen von dem Jugendclub erfahren haben. Manche kommen, weil ihre Mütter bereits die Hella besucht haben, erzählt Catía S. Der Großteil wohnt nicht weit von der Hella entfernt.

„Viele unserer Besucher*innen wachsen in Armut auf. Ihre Eltern arbeiten entweder in extrem schlecht bezahlten Jobs oder sind nicht erwerbstätig. Diese Überschneidung von Geschlecht und Klasse ist hier an diesem Ort immer präsent“, sagt Caroline W. Familien wohnen mit vielen Kindern auf engstem Raum. Berlinweit lebt fast ein Viertel der Kinder und Jugendlichen in einem Haushalt, der auf Sozialleistungen angewiesen ist. In Marzahn-Hellersdorf ist der Anteil höher: 25,9 Prozent. Das ging im Mai aus einer Antwort der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie auf eine Anfrage der Abgeordneten Katrin Seidel (Linke) hervor.

Das merken die beiden Sozialarbeiterinnen bei ihrer Arbeit. Sie erzählen, dass einige Kinder großen Redebedarf haben. Manche reden sofort los, sobald sie die Tür öffnen. Deshalb nehmen sie sich auch die Zeit dafür. Dass sie damit Erfolg haben, zeigt sich nicht nur darin, dass Kinder und Jugendliche über Jahre in die Hella kommen und sich Caroline W., Catía S. und ihren zwei Kolleg*innen anvertrauen. Viele kommen später in die Hella, wollen ein Praktikum dort machen oder erzählen von ihrem Leben.

Auch die drei Kinder wollen später wiederkommen, wenn die Hella um 13 Uhr auch offiziell ihre Türen öffnet. Dann kochen alle, essen gemeinsam und erzählen, was in der Schule passiert ist – so wie jeden Tag von Dienstag bis Samstag.

  • Fotos: Christina Heuschen