Intro
von Julia Weiss
Veröffentlicht am 01.07.2020
neben Angst und Sorge hat die Coronakrise zu Beginn auch ein Gemeinschaftsgefühl ausgelöst: Das Virus kann uns alle treffen, deshalb halten wir zusammen. Nachbarn halfen sich, Risikogruppen wurden erfolgreich geschützt. Und jetzt? Mittlerweile wird immer deutlicher, dass die Krise längst nicht alle gleich hart trifft, sondern immer öfter Menschen, die sowieso schon ein mühsames Leben führen. Das zeigen die Ausbrüche in den Fleischfabriken in NRW und in Berliner Wohnhäusern, wo Menschen auf engem Raum zusammenwohnen müssen. Die Coronakrise verstärkt soziale Ungleichheit.
Auch in Mitte macht eine marginalisierte Gruppe auf ihre Not aufmerksam, die der SexarbeiterInnen. Denn während Massagesalons und Kosmetikstudios wieder öffnen dürfen, ist Sexarbeit weiterhin untersagt. Bei Verstößen müssen Freier und Bordellbetreiber hohe Strafen zahlen. Einige Politiker diskutieren sogar ein generelles Verbot. Den Betroffenen wäre damit allerdings nicht geholfen, ganz im Gegenteil, sagt Lea Rakovsky von der Beratungsstelle gegen Menschenhandel Ban Ying. „Die Coronakrise wird instrumentalisiert, um eine erneute Debatte um ein Sexkaufverbot in Deutschland zu entfachen.“
Im Mai forderten 16 Bundestagsabgeordnete, darunter der Mediziner Karl Lauterbach (SPD) und der Ex-Gesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU), in einem Brief an die Regierungschefs der Länder, Sexarbeit weiterhin zu verbieten. Berichtet hatte die Nachrichtenagentur dpa. „Es dürfte auf der Hand liegen, dass Prostitution die Wirkung eines epidemiologischen Superspreaders hätte – sexuelle Handlungen sind in der Regel nicht mit Social Distancing vereinbar“, hieß es. Darüber hinaus wollen sie Sexkauf generell verbieten, um Betroffene vor Ausbeutung zu schützen.
Der Beratungsstelle gegen Menschenhandel Ban Ying zufolge wäre damit allerdings niemandem geholfen. Die Organisation berät SexarbeiterInnen in Mitte und betreibt eine Zufluchtswohnung. In einem offenen Brief kritisieren die HelferInnen den Vorstoß der Politiker. „Ein Sexkaufverbot würde auch in Deutschland dazu führen, diejenigen weiter in die Illegalität zu drängen, die ohnehin schon unter prekären Arbeitsbedingungen tätig sind und daher auch einer höheren Gefahr der Ausbeutung und des Zwangs ausgesetzt sind“, heißt es darin. Schon der temporäre Shutdown des Gewerbes werde nicht eingehalten. Ganz einfach deshalb, weil die Not zu groß sei und viele gar keine andere Wahl hätten.
Ein Verbot schaffe für SexarbeiterInnen zusätzliche Probleme, sagt Lea Rakovsky von der Beratungsstelle. „Es besteht zum Beispiel die Gefahr, dass Freier sich erlauben, weniger oder gar nicht zu zahlen, weil sie wissen, dass die Frauen sich nicht beschweren können.“, sagt sie. Zielführender als ein Verbot sei es, SexarbeiterInnen als Alliierte im Kampf gegen Ausbeutung und Menschenhandel anzuerkennen und sie an der politischen Debatte zu beteiligen, heißt es im Brief.
Opfer von Menschenhandel und Ausbeutung müssten Entschädigungen und realer Schutz geboten werden. Während des Corona-Shutdowns hätten zum Beispiel einige einen Corona-Zuschuss bekommen. Allerdings nur diejenigen, die offiziell angemeldet sind. „SexarbeiterInnen ohne Dokumente haben kein Zugang zu dieser Hilfe“, sagt Rakovsky.
Der Bundesverband für sexuelle Dienstleistungen weist außerdem darauf hin, dass selbstbestimmte Sexarbeit durchaus mit den Corona-Vorschriften zu vereinbaren wäre. Und wirft den Bundestagsabgeordneten vor, die Branche mit pauschalen Vorwürfen zu diskreditieren. „Den Begriff des ‚Superspreaders‘ in diesem Zusammenhang zu benutzen ist nicht nur extrem beleidigend, sondern auch falsch“, heißt es in einem offenen Brief. „Warum sollten SexarbeiterInnen, Kunden und BordellbetreiberInnen die Corona-Schutzmaßnahmen nicht einhalten können? Halten Sie diese für dümmer als den Rest der Gesellschaft?“ Ähnlich wie Masseure oder Kosmetikerinnen könnten Körperteile berührt und trotzdem auf Maske und Hygiene geachtet werden.
Julia Weiss ist freie Autorin beim Tagesspiegel. Sie freut sich über Tipps, Anregungen und konstruktive Kritik. Schreiben Sie ihr eine Mail oder folgen Sie ihr auf Twitter.
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