Intro

von Julia Weiss

Veröffentlicht am 01.09.2021

als Jackie Klawonn ihre Kneipe zum ersten Mal nach der Wende besichtigte, hingen noch Porträts von Erich Honecker an der Wand. Sie entfernte die Bilder und stellte einen Bartresen auf. Und so wurde aus den leeren Räumen an der Brunnenstraße der „Biermichel“. Seit über 30 Jahren eine Institution im Kiez. Doch jetzt ist Schluss. Am Wochenende musste die Kneipe schließen, weil der neue Hauseigentümer, die Tiedemann Gruppe, sie dort nicht mehr will.

„Ich habe mein ganzes Leben in der Kneipe verbracht“, sagt Jacqueline Klawonn. Dass es jetzt vorbei sein soll, kann sie nicht glauben. Genauso wenig wie die Menschen im Kiez. Als sie am Wochenende Barhocker und Tische ausräumte, fragte ein Stammgast, ob er seinen angestammten Stuhl mit nach Hause nehmen kann. Ein anderer Gast wollte eine letzte Runde Karten spielen. „Am Ende haben wir alle geweint“, sagt die Betreiberin.

Als die Tiedemann Gruppe das Haus 2019 gekauft hatte, sah es erst so aus, als könnte der „Biermichel“ bleiben. Gemeinsam mit ihrem Geschäftspartner Matiss Grasis wollte Klawonn die Räumlichkeiten kaufen. Circa 500.000 Euro sollten sie kosten. Dafür habe sie eine mündliche Zusage bekommen. Doch erst habe sie die Räumungsvereinbarung unterschreiben sollen, so Klawonn, weil der Mietvertrag endete und renoviert werden sollte. Doch kaum war die Unterschrift gesetzt, kostete die Kneipe plötzlich 150.000 Euro mehr und eine Sperrstunde ab 20 Uhr sollte Bedingung sein, so schildert es die 55-Jährige. Die Tiedemann Gruppe hat auf eine Anfrage des Tagesspiegels nicht geantwortet.

„Ich habe während Corona sieben Monate lang die volle Miete bezahlt“, sagt Klawonn. „Seit Juni haben wir wieder geöffnet und jetzt wo das Geschäft langsam wieder lief, wurde mir gekündigt.“ Nur vier Wochen hatte sie Zeit, um auszuziehen. Zum Abschiedsabend kamen auch einige Bezirkspolitiker der Linken und Grünen. BVV-Vorsteher Frank Bertermann (Grüne) und Bezirksstadtrat Ephraim Gothe (SPD) hatten schon länger versucht, zwischen Investor und Barbetreiberin zu vermitteln. Ohne Erfolg.

Mieter:innen von Gewerbeflächen sind in Deutschland nicht gegen Verdrängung geschützt. Anders als Privatmieter:innen haben sie keine Sicherheiten. Verträge werden befristet abgeschlossen. Laufen sie aus, können sich alteingesessenen Gewerbetreibende die hohen Mieten nicht mehr leisten. Gerade im Kiez um die Brunnenstraße sieht man die Folgen. Viele Kneipen, aber auch Lebensmittelgeschäfte und Handwerker mussten aufgeben. Stattdessen gibt es dort nun viele Büroräume.

Jacqueline Klawonn ist hier aufgewachsen, genauso wie ihre Mutter und ihre Großmutter. Sie hat die Veränderung im Kiez beobachtet. „Immer wenn wieder jemand zugemacht hat, habe ich gesagt: Mensch lasst mich doch nicht alle alleine.“ Andere Veränderungen hätten sie dagegen nie gestört. Dass sich immer mehr Studierende und Start-Up-Menschen unter ihre Stammgäste mischten, fand sie schön. „Bei mir war immer jeder willkommen“, sagt sie. „Diese Orte, wo die Nachbarschaft zusammenkommt, und jeder so sein darf, wie er ist, die braucht Berlin doch.“

  • Julia Weiss ist Redakteurin in der Nachrichtenredaktion des Tagesspiegels. Sie freut sich über Anregungen und konstruktive Kritik. Schreiben Sie ihr eine Mail oder folgen Sie ihr auf Twitter.