Kultur

Tatorte im Ausstellungsraum

Veröffentlicht am 23.06.2021 von Joana Nietfeld

Am 6. April 2006 wurde Halit Yozgat in einem Internetcafé in Kassel erschossen. Er war das neunte von insgesamt zehn Opfern des NSU. Bei der Documenta 2017 präsentierte die Recherchegruppe Forensic Architecture ihre Untersuchungen zum Mord an Halit Yozgat in Form einer Drei-Kanal-Videoinstallation. In der Simulation wurden die räumliche Situation im Internetcafé nachgestellt und die möglichen Vorfälle zum Mordzeitpunkt durchgespielt. In Zentrum stand die Frage, ob es sein kann, dass der im Internetcafé anwesende Verfassungsschutzbeamte Uwe Temme nichts von dem Schuss mitbekommen hat, so wie er es vor Gericht behauptet hatte? Forensic Architecture kam zu dem Ergebnis: So kann es nicht gewesen sein.

„The NSU Complex“ ist eines der am häufigsten ausgestellten Werke von Forensic Architecture. Es ist aber nicht nur eine künstlerische Arbeit, sie diente auch als Beweis bei zwei parlamentarischen Untersuchungen. Hier kreuzen sich Kunst, Gesetz und Menschenrechtsarbeit, was so manchen verwirrt.  Jetzt ist „The NSU Complex“ in der Ausstellung „Investigative Commons“ erneut im Haus der Kulturen der Welt ausgestellt. Sowohl als Videoinstallation als auch in Form eines Teppichs, der die maßstabsgetreuen Umrisse des Internetcafés zeigt.

Forensic Architektur, eine am Goldsmiths College in London gegründete Gruppe aus Künstlerinnen, Autoren, Wissenschaftlerinnen und Architekten nutzt den Ausstellungsbetrieb als Forum. Verschiedene Öffentlichkeiten zu suchen, ist Teil ihrer Erfolgs- und Überlebensstrategie. Recherchen, die sich gegen Staat, Polizei und Großkonzerne wenden, können gefährlich sein. Die Ausstellung „Investigative Commons“ im Haus der Kulturen der Welt leistet die großartige Aufgabe, die neuen Formen der Wahrheitsfindung, wie sie Forensic Architecture und das mitorganisierende European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) anwenden, detailliert vorzustellen. Da ist höchst aufschlussreich, weil deutlich wird, wie Kräfte gebündelt, die Datenflut im Netz genutzt und Technologien eingesetzt werden, um neue partizipatorische Untersuchungsprozesse durchzuführen. Das Spezialgebiet der Londoner ist es, Untersuchungen mit interdisziplinären Mitteln durchzuführen, sie arbeiten etwa mit Soundanalysen, werten Social-Media-Material aus, initiieren Reenactments von Tathergängen, rekonstruieren Verbrechensschauplätze in 3D-Modellen. Die Daten führen sie in interaktiven Karten, Zeitleisten oder Videoinstallationen zusammen, und erst in der Kombination der Quellen weitet sich der Blick auf ein Geschehen, über das sonst höchstens staatliche Stellen und Geheimdienste Bescheid wissen.

Im Foyer im Haus der Kulturen der Welt sind rund zehn Stationen aufgebaut, die Fallbeispiele vorstellen und nach Methoden gruppieren. Hier fallen Stichworte wie „Counter Forensics“, „investigative Ästhetik“ und „Open-Source-Ermittlungen“. Bei allen Fällen haben zwei oder mehr Initiativen zusammengearbeitet. So untersucht Forensic Architecture gemeinsam mit Bellingcat seit Mai 2020 die Polizeigewalt während der Black-Lives-Matter-Proteste in den USA. Über 1000 Vorfälle wurden auf Basis von Bildern und Videos und Social-Media-Posts dokumentiert.

Das Kunstsystem ist nicht nur Ermöglicher und Partner dieser Arbeit, sondern kann auch selbst ins Visier der Ermittler geraten. In der Ausstellung ist auch der Fall von Warren B. Kanders dargestellt, der im Stiftungsrat des New Yorker Whitney Museums saß und dem nachgewiesen wurde, dass er sein Geld unter anderem mit Tränengasgranaten macht. Um herauszufinden, wohin die Munition geliefert wird, schaltete sich Forensic Architecture mit einem Verfahren der „investigativen Ästhetik“ ein, das so ähnlich auch bei der Untersuchung von Luftangriffen in Jemen und Herbizid-Einsätzen in Gaza zum Einsatz kam. Hier ist die Verbindung zur Kunst dann sehr augenscheinlich. – Text: Birgit Rieger

„Investigative Commons“, bis 8. August, Haus der Kulturen der Welt, John-Foster-Dulles-Allee 10, Tiergarten, Mi-Mo 12-20 Uhr, www.hkw.de