Kultur
Kindheit im Plattenbau – Ausstellung im Neuen Berliner Kunstverein
Veröffentlicht am 15.03.2023 von Julia Weiss
Im Moment arbeitet sie in New York. Aber die Home Base der Künstlerin Sung Tieu ist Berlin. Als Kind zog sie mit ihrer Mutter aus dem sächsischen Freital in einen Wohnblock nach Hohenschönhausen. Das Haus ihrer Erinnerungen wird demnächst verschwinden aus der hauptstädtischen Topografie. Investoren zeigen im Netz bereits ein glänzend designtes „Quartier Gehrenseestraße“ vor, als sei es schon Realität.
Die seit 20 Jahren leerstehenden Plattenbauten sollen dafür geschreddert und recycelt werden. Noch pfeift der Wind hindurch. Bislang widersetzte sich der graffitiübersprühte Lost Place allen vollmundigen Neubebauungsplänen. Neun Betonriegel besetzen das Areal. Einer davon ist jetzt Skulptur geworden. Mitten im Showroom des Neuen Berliner Kunstvereins (n.b.k.) steht das glatte Stahlobjekt in Mattschwarz, Minimalismus pur. Der Block ist gut 1,50 hoch. Wer von oben reinlugt, erkennt die Grundrissstruktur: Von einem schnurgeraden, langen Flur gehen kleine Räume ab.
In einem der Zimmer verbrachte Sung Tieu Kindheitsjahre: Geburtstag feiern, Freunde im 1. oder 3. Stock treffen, immer was los auf allen Gängen. Im Zoominterview erzählt die 35-Jährige davon. Dass hier vor allem Menschen aus der vietnamesischen Community lebten, gehörte dazu. Seit Anfang der 1980er hatte die DDR Vertragsarbeiter:innen aus dem kommunistischen Nachkriegs-Vietnam in dem riesigen Wohnheim einquartiert, streng reglementiert. Über 60.000 insgesamt kamen ins Land.
Nach der Wende beeilte man sich, möglichst viele von ihnen rasch wieder zurückzuschicken. Manche blieben. Später kamen Asylbewerber hinzu. Wie es sich hier lebte, erzählt eine 7-Jährige namens Ching in einem Zeitungsartikel, der in der Ausstellung ausliegt. Selbstbewusst widerspricht sie darin einem New York Times-Redakteur, der die ghettoartigen Zustände angeprangert hatte.
In der 2006 gedrehten Fernsehserie „Türkisch für Anfänger“ spielte Sung Tieu die vietnamesische Teenagerin Ching. Als Künstlerin setzt sie sich in Video- und Soundarbeiten, Installationen und Objekten mit Architektur und Ideologie, Bürokratie und Machtstrukturen sowie den Auswirkungen des Kalten Krieges auseinander. Sung Tieu wird in diesem Jahr unter anderem im MIT List Visual Arts Center, Cambridge /USA ausstellen. 2021 war sie für den Preis der Nationalgalerie nominiert und gewann den Publikumspreis. 2021 wurde sie außerdem mit dem Frieze Artist Award und dem ars-viva-Preis ausgezeichnet.
Ihre Ausstellung „No Jobs, No Country“ ist bis 7. Mai im Neuen Berliner Kunstverein (n.b.k.) im Showroom in der Chausseestraße 128/129 zu sehen. Mit minimalistischen Mitteln zeigt Sung Tieu, mit welchen Restriktionen das Leben in einem der größten Wohnheimkomplexe der DDR verbunden war. Im Hauptausstellungsraum im Erdgeschoss läuft parallel die Ausstellung „Realities Left Vacant“. Sie präsentiert Arbeiten von elf internationalen Künstler:innen, die 2022 mit dem Arbeitsstipendium Bildende Kunst des Berliner Senats ausgezeichnet wurden. – Text: Elke Linda Buchholz
- Öffnungszeiten: Dienstag bis Freitag von 12-18 Uhr und Donnerstag von 12-20 Uhr