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„Vieles ist bis heute nicht aufgearbeitet“ – Geschichte der NS-Zwangsarbeit in Mitte
Veröffentlicht am 08.06.2022 von Julia Weiss
Nach dem Zweiten Weltkrieg wollten die Unternehmen plötzlich nichts mehr von Zwangsarbeit wissen. „Die meisten haben sich rausgeredet“, sagt der Historiker Thomas Irmer. Er forscht seit Jahren zu diesem Thema und weiß, dass fast alle Betriebe und Fabriken im Gebiet des heutigen Bezirkes Mitte zur NS-Zeit Zwangsarbeitende beschäftigt haben. Das waren KZ-Häftlinge, Kriegsgefangene, Menschen, die aus besetzten Ländern verschleppt worden waren. Viele arbeiteten in der Elektroindustrie unter anderen für AEG, Osram oder Telefunken. Sie räumten während des Kriegs Trümmer im Hotel Adlon weg. Oder sie entschärften Bomben auf der Straße.
„In Mitte gab es viele Industriezweige und auch verschiedene Gruppen von Zwangsarbeitern“, sagt Irmer. „Die wurden sehr unterschiedlich behandelt.“ Die Menschen aus Westeuropa galten beispielsweise als besser ausgebildet als die aus Osteuropa und waren entsprechend beliebter. Am schlechtesten sei es den KZ-Häftlingen ergangen, sagt Irmer. Diese mussten die gefährlichsten Aufgaben wie Bombenentschärfungen übernehmen.
Der Lohn von Zwangsarbeitenden musste laut Irmer immer geringer sein als der von regulären, deutschen Arbeiter:innen. Um dies sicherzustellen, sei eine Sondersteuer darauf erhoben worden. Auch für die Verpflegung und die Unterkunft wurde Geld abgezogen. Die Arbeitszeiten waren sehr lang und selbst für Tätigkeiten in der Industrie gab es keine Schutzkleidung.
„Für den Einsatz von jüdischen Zwangsarbeitern hatte das Berliner Arbeitsamt eine eigene Zweigstelle eingerichtet“, sagt Irmer. Der Leiter Alfred Eschhaus kam aus Wedding. „Zeitzeugen beschrieben ihn als besonders aggressiv gegenüber Juden und Jüdinnen. Er hat die Menschen beleidigt und gedemütigt“, sagt Irmer. Außerdem sei er korrupt gewesen. Für die Verteilung der Zwangsarbeitenden habe er sich von Unternehmen aus der Textilindustrie, die in Mitte stark vertreten war, bestechen lassen. Sie produzierten für ihn Klamotten, die er dann gewinnbringend weiterverkaufte.
Angefangen habe die NS-Zwangsarbeit mit der Verpflichtung für jüdische Empfängerinnen und Empfänger von Sozialhilfen. Die seien zuerst dazu verpflichtet worden. „1940 wurde der sogenannte geschlossene Arbeitseinsatz auf alle Jüdinnen und Juden ausgeweitet, um sie in der Rüstungsindustrie einzusetzen“, sagt Irmer. Das sei so lange weitergegangen, bis den Nazis die Ermordung der Jüdinnen und Juden wichtiger geworden sei als ihre Ausbeutung durch Zwangsarbeit. 1943 seien schließlich alle verbliebenen jüdischen Zwangsarbeitenden festgenommen und ins KZ gebracht worden.
Die sogenannte Fabrikaktion wurde dem Historiker zufolge in Mitte, im „Judenreferat“ der Gestapo, in der Nähe des Hackeschen Marktes organisiert. 10.000 Menschen wurden direkt in den Fabriken verhaftet. 1943 werden sie in große Sammellager in Mitte gebracht und dann über den Güterbahnhof Moabit deportiert.
„Vieles ist bis heute nicht aufgearbeitet“, sagt Irmer. Gerade bei kleineren Unternehmen, die es heute gar nicht mehr gibt, sei es schwierig. Größere Unternehmen wie Bayer, damals Schering, AEG und Osram würden sich seit den 90er-Jahren zwar um die Aufarbeitung bemühen, sagt Irmer, das sei aber nicht immer selbstverständlich gewesen. Nach dem zweiten Weltkrieg hätten die meisten Unternehmen jede Verantwortung zurückgewiesen und sich geweigert, Entschädigungen zu zahlen.
Dieses dunkle Kapitel der deutschen Geschichte wird momentan im Mitte-Museum in Gesundbrunnen aufgearbeitet. Eine Ausstellung in Kooperation mit dem Verein „Sie waren Nachbarn“ und dem Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit beschäftigt sich mit NS-Zwangsarbeit in Moabit 1938-1945. Zu sehen ist diese noch bis 30. Juni, immer Sonntag bis Freitag von 10 bis 18 Uhr.