Nachbarschaft
Veröffentlicht am 15.06.2018 von Judith Langowski
Tuncay Gary ist Schauspieler, Regisseur und Dramaturg. Seit drei Jahren leitet er eine Theater- und Literaturwerkstatt mit Kindern und Jugendlichen in Berlin-Gesundbrunnen.
Herr Tuncay Gary, was machen Sie in Ihrer Theaterwerkstatt? In der Theaterwerkstatt arbeite ich mit Kindern und Jugendlichen an Theaterstücken, die wir dann gemeinsam aufführen. Das ist eine Gruppe von 15 Kindern, die regelmäßig kommen, im Alter zwischen 7 und 19 Jahren. Zuletzt haben wir Don Quijote in einer von mir bearbeiteten Fassung eingeübt. Das kam bei den Kindern gut an und hat mich sehr motiviert. Auch die Aufführung im Lichtburgforum nebenan ist aus allen Nähten geplatzt.
Haben Sie schon ein nächstes Projekt? Es wird mit klassischen Werken der Weltliteratur weitergehen. Seit einigen Monaten proben wir Hamlet. Auch dafür habe ich zusammen mit dem Kindermann Verlag eine Theaterfassung geschrieben. Ich musste viel am Text kürzen, damit die Sprache der Szenen verständlich und klar wird. So können die Kinder die alte Sprache auch sprechen und dabei spielen.
Was genau schätzen die Jugendlichen an der Arbeit mit diesen Theaterstücken? In erste Linie die Lust an der Verwandlung. Wir tauschen die Rollen von Szene zu Szene. Damit hat man immer die Möglichkeit, in neue Figuren einzutauchen. Jeder kann in einer neuen Szene beweisen, was er drauf hat.
Sie betreiben auch eine Literaturwerkstatt. Was genau passiert dort? In der Literaturwerkstatt bieten wir vormittags Schreibworkshops für Schulen und Kitas an. Nachmittags ist die Werkstatt offen für verschiedene Projekte. Gerade schreiben wir mit Jugendlichen ein eigenes Theaterstück. Die Werkstätten sind Teil der Gartenstadt Atlantic, die sich hier am Gesundbrunnen befindet. Wenn man hier hineinläuft, denkt man nicht, in einem Problembezirk zu sein.
Haben Sie hier schon negative Erfahrungen gemacht? Probleme kann man überall haben, mitten in der City, wo alles schön und teuer ist, oder an Randgebieten. Den Problembezirk machen immer andere, indem sie von außen sagen, hier sei eine Brennpunktschule, dort ein Problembezirk. Seit den drei Jahren, in denen ich hier bin, ist nichts vorgefallen.
Im Jahr 2017 haben Sie den Friedrich-Bödecker-Kreis in Berlin mitgegründet, der zum Ziel hat, Schüler*innen in Verbindung mit Literatur und Autor*innen zu bringen. Aktuell läuft ein Projekt zum Thema „Kultur macht stark“. Was genau hat es damit auf sich? Wir organisieren Schreibworkshops für Schulklassen zum Thema Ausgrenzungserfahrungen und Mobbing in sogenannten Brennpunktschulen in Berlin. Die Kinder sollen in der Begegnung mit Literatur kulturell, sozial und emotional gefördert werden. Dazu waren wir zum Beispiel mit einer Klasse im Jüdischen Museum, nächste Woche geht es dann ins Museum für islamische Kunst zum Workshop „Religiöse Vielfalt islamischer Kulturen“. In diesen Autorenpatenschaften begleiten wir Schulklassen und Gruppen von Jugendlichen über einen längeren Zeitraum und veröffentlichen dann deren Texte in einem Buch.
Früher waren Sie Schauspieler am Deutschen Theater, am Gorki-Theater und am Wiener Burgtheater, Sie sind aber auch als Autor tätig. Vor kurzem haben Sie etwa Ihren Gedichtband „Blauflügel Jägerliest“ veröffentlicht. Darin finden sich Gedichte in verschiedenen Sprachen. Würden Sie sich als multilingualen Autor bezeichnen? Ich selbst schreibe nur in einer Sprache. In dem Fall sind das Kollegen, die meine Texte übersetzt haben. Letztes Jahr wurde das Buch „A World Assembly of Poets“ herausgegeben, in dem ich als einziger Vertreter aus Deutschland mitaufgenommen wurde und meine Texte auf Englisch übersetzt wurden. Ein Dichterkollege aus der Türkei hat mich kürzlich gefragt, ob ich seine Gedichte auf Deutsch übersetzen kann. Seine Freude darüber war so groß, dass er auch welche von mir auf Türkisch übersetzte und in der Türkei in einer Zeitschrift veröffentlichte. Ich warte allerdings seit Monaten auf mein Exemplar. Die Zensur ist gerade so stark, alles wird kontrolliert. Das kann noch ein bisschen dauern.
Wer soll hier als nächstes vorgestellt werden? Sie selbst? Jemand, den Sie kennen? Wir freuen uns auf Ihre Vorschläge unter: leute@tagesspiegel.de