Nachbarschaft

Veröffentlicht am 10.07.2019 von Laura Hofmann

Albrecht Selge, 43, ist Autor, Moabit-Bewohner und Verkehrs-Twitterer.

Wir treffen uns im Kowski, in der Wilhelmshavener Straße. Früher war das ein türkisches Vereinsheim, heute gibt es hier Kaffee, Mittagstisch, abends Drinks. Zum Schreiben ist es Albrecht Selge hier zu laut, aber am Abend kommt er gerne mal vorbei. Seit zwölf Jahren wohnt Selge mit seiner Frau und mittlerweile drei Kindern in Moabit, gleich um die Ecke. Aufgewachsen ist der Schriftsteller in Grunewald.

Selge hat ein Buch geschrieben, sein drittes bereits, über eine Frau, die einsteigt, um auszusteigen. Raus aus dem Leben, wie wir es kennen, rein in den Zug. Statt Mietvertrag hat die namenlose ältere Frau jetzt eine Bahncard 100. Weil die Rente für eine neue Wohnung nicht reicht, als sie die alte verliert, und sie nicht bei ihrer besten Freundin unterschlüpfen möchte. „Fliegen“ heißt der Roman, denn so fühlt sich das an, im Zug, einige Zentimeter über dem Boden, am besten gegen die Fahrtrichtung.

Eine Figur, die auch von Menschen inspiriert ist, die Selge in Berlin begegnen. Keine klassischen Obdachlosen, sondern zum Beispiel Flaschensammler, von denen es immer mehr gibt. Weil die Rente oder das Einkommen für ein würdevolles Leben nicht reicht. Die soziale Schieflage sieht Selge auch bei sich im Kiez: Einerseits „kommt“ Moabit seit Jahren. Immer mehr gut situierte Familien ziehen her. Andererseits gibt es auch viel Armut. Und migrantische Familiennetzwerke werden auseinander gerissen, weil sich die jungen Erwachsenen keine Wohnung in der Nachbarschaft mehr leisten können. „Es entmischt sich gerade total“, sagt Selge. Was er schade findet.

Ein anderes Thema, das ihn umtreibt, ist der Verkehr. Selge fährt Fahrrad, seine Kinder und seine Frau auch, ein Auto hat die Familie nicht. „Brauchen wir auch nicht“, sagt Selge. Auch wenn viele behaupten, für Familien sei ein Pkw unabdingbar. Vor allem seit er Kinder hat, fällt Selge auf, wie gefährlich die Straßen für Radfahrer sind. „Da stehen einem die Haare zu Berge“, sagt er. Auf der Tiergartenstraße zum Beispiel, wo die Schule seines Sohns liegt, sei der Radweg viel zu schmal. „Da müsste man eigentlich die Parkplätze wegnehmen“, findet er. Traut sich nur keiner. Auch die Turmstraße sei eine Fehlplanung. Hier liegt der Radweg zwischen Fahrbahn und Parkplätzen – mit der Folge, dass er ständig zugeparkt ist. Er schlägt vor, die Parkplätze als Puffer zwischen Radweg und Fahrbahn zu integrieren – eine Idee, die in der Bezirksverordnetenversammlung viel Zustimmung findet.

Seinen Frust über die Radverkehrs-Situation in Moabit lässt Selge auf Twitter raus, bleibt dabei aber stets höflich und konstruktiv. Und er lobt auch das Bezirksamt Mitte, das aufmerksam mitlese und auch Infos beisteuere. Er findet Twitter als Kommunikationsmedium auch deshalb hilfreich, weil man dort merke, dass man mit seinem Kampf nicht alleine ist. Auf Twitter vernetzen sich viele Radverkehrsaktivisten, prangern öffentlich Missstände an. „Wenn man als Fußgänger oder Radfahrer alleine unterwegs ist, fühlt man sich angesichts der Übermacht der Autos oft ohnmächtig“, sagt Selge.

Im Frühjahr erscheint bereits sein neues Buch: ein Beethoven-Roman, denn 2020 ist anlässlich des 250. Geburtstags des Komponisten Beethoven-Jahr. Selge will dem Leser die Person und die Musik näherbringen – aus der Perspektive von Menschen, die um ihn herum lebten, aber nie zu Wort kamen. Die einer Prostituierten zum Beispiel, oder die seines Neffen.

Wer soll hier als nächstes vorgestellt werden? Sie selbst? Jemand, den Sie kennen? Wir freuen uns auf Ihre Vorschläge unter: leute@tagesspiegel.de