Nachbarschaft

Veröffentlicht am 15.01.2020 von Laura Hofmann

Judith Lehmann, 38, ist Chorleiterin, Katharina Vrubliauskaite, 29, ist Sozialarbeiterin und macht Schauspieltraining. Zusammen verantworten sie den Freien Theater-Kinderchor Berlin, der im Weddinger Sprengelkiez Zuhause ist. Insgesamt 32 Kinder von fünf bis 16 Jahren singen und schauspielern hier, sie werden in drei Altersgruppen unterrichtet. Am Samstag, 25. Januar, tritt der Chor im City Kino Wedding auf (16 Uhr).

Ich habe mit Judith Lehmann und Katharina Vrubliauskaite über ihren Chor und ihre Arbeit gesprochen, und zwar im Proberaum vom „Intergalaktischen Kulturverein“ in der Sprengelstraße. Der Raum ist klein und es ist kühl, die Wände sind bunt bemalt, die Vorhänge zugezogen. In der Ecke steht ein Klavier, davor ist die Bühne, die eigentlich keine ist, sondern nur ein Stück Boden. Davor sind in zwei Reihen Stühle im Halbkreis aufgestellt.

Hier einige Auszüge aus unserem Gespräch:

Vrubliauskaite: „Ich glaube, es kommt darauf an, dass es den Kindern Spaß macht. Es gibt einen Konzertplan am Anfang des Halbjahrs. Aber das, was entsteht, erwächst aus dem Ausprobieren. Was funktioniert, auch unter den Bedingungen, die wir haben?“

Lehmann: „Ich habe Chorleitung studiert und komme aus einem klassisch musikalischen Elternhaus. So richtig mit Chorschule, sauber singen, Töne treffen. Und ich musste immer ganz viel davon. Mein eigener Weg in diesen drei Jahren seit der Chorgründung ist so eine Art musikalische Befreiung, obwohl das Wort vielleicht ein bisschen groß ist. Es ist so: Wenn ein anderer Chorleiter draufgucken würde, würde er denken: Was macht die denn? Ich stehe nicht klassisch vor dem Chor und dirigiere. Ich versuche, nicht die traditionellen Ideal-Anforderungen an die Kinder zu stellen, aber ich nehme die Arbeit sehr ernst, ich nehme vor allem die Kinder ernst und wie unterschiedlich sie sind. Und ich gehe davon aus, dass sie ganz viel können. Und dass in der Beziehung und beim Arbeiten ganz viel kommt. Und das geht – für mich selber überraschend – ganz großartig auf. Wir singen ganz Verschiedenes, zum Beispiel den Frühlingstraum von Schubert einfach neben Bang Bang von Nancy Sinatra, aus ganz verschiedenen Ecken. Die suche ich mit Absicht so aus, dass das nicht „Kinderkacke“ ist, sondern wirklich Musik. Damit sich verschiedene Menschen darin finden können, auch Erwachsene im Publikum. Was am Ende dabei rauskommt, ist sehr berührend. Und das liegt auch daran, dass die Verantwortung in die Gruppe geht.“

Lehmann: „Die Kinder kommen ziemlich fertig von der Schule, aber auch hier wird ganz klar gearbeitet. Es wird viel gefordert, weil es eben gar nicht egal ist, was am Ende dabei rauskommt. Es ist nicht so, dass wir uns alle erstmal entspannen und dann irgendwas von den Beatles singen…“

Vrubliauskaite: „Ich habe auch das Gefühl, die Kinder kommen müde und fertig hier an, teilweise nach Zehn-Stunden-Schultagen. Wenn die Probe beginnt und wir erklären, was wir uns für den Tag vorgenommen haben, ist es oft sehr unruhig. Aber sobald das Musikalische losgeht, sind die Kinder da, präsent.“

Lehmann: „Ich glaube, wir sind deshalb so erfolgreich, weil die Qualität einfach gut ist. Das merke ich sehr deutlich, auch im Vergleich zum Anfang. Viele Kinder haben sich über die Zeit stimmlich toll bei uns entwickelt und zu einem eigenen Ausdruck gefunden. Wir haben ja auch eine Webseite und haben ein Video auf Youtube veröffentlicht. Seit dem letzten Jahr haben wir viele Anfragen von außen bekommen, auch Einladungen zu einem internationalen Chorwettbewerb. Bei solchen Anfragen überlegen wir: Wollen wir das überhaupt? Bisher machen wir davon nicht so viel, weil der Chor auf jeden Fall bleiben soll, wie er ist. Auf keinen Fall soll ein Leistunsgdrill entstehen.“

Vrubliauskaite: „Ich persönlich nehme den Chor als sehr offen wahr und das merken die Kinder auch. Auch, dass es von uns allen abhängt, was dabei rauskommt. Die Lieder, die Art des musikalischen Ausdrucks, die schauspielerischen Einlagen, das alles verleiht dem Chor einen eigenen Charme.“

Lehmann: „Viel läuft auch über unsere Beziehung zu den Kindern. Wir waren zum Beispiel im November auf Chorreise in Brandenburg und haben uns einfach ganz viel Zeit genommen mit ihnen. Wichtig ist der individuelle Weg jedes einzelnen Kindes. Wir haben jetzt 50 Soli im Konzertprogramm. Bis zum kleinen Kind tritt jedes an dieses Mikro und gibt seinen Teil dazu. Ein paar Kinder trauen sich nicht, solo zu singen, die moderieren dann zum Beispiel. Wir suchen für jeden seine Rolle. Und dadurch sind alle so involviert.“

Vrubliauskaite: „Im besten Fall erwartet die Besucher am 25. Januar ein sehr atmosphärisches Konzert, die Räume im City Kino sind super cool. Wir treten auf einer großen Holzbühne in einem ganz alten Kinosaal auf. Man bekommt gleich ein feierliches Grundgefühl. Das Programm ist sehr bunt: mit Theater, Schauspiel, mit klassischen und nicht-klassischen Elementen, mit Jazz, Gospel und Seeräuber-Jenny aus der „Dreigroschenoper“. Und die berühmte Do-Re-Mi-Szene. Es gibt auch ein paar Stücke mit theatralen Einheiten.“

Lehmann: „Aus der Seeräuber-Jenny stammt auch der Titel des Konzerts: „Und das Schiff mit acht Segeln und 50 Kanonen wird entschwinden mit mir…“ Dafür haben wir auf der Chorfahrt ein riesiges schwarzes Seeräuber-Segel mit den Kindern gebaut. Dazu dann unsere ungewöhnliche Musikercrew: Cello, Akkordeon, Schlagzeug. Da gibt’s viel zu sehen auf der Bühne, viel zu spüren – für Groß und Klein!“ – Text: Laura Hofmann

Foto: Sven Darmer

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