Nachbarschaft

Veröffentlicht am 29.04.2020 von Julia Weiss

Bjoern Weigel ist Historiker und wissenschaftlicher Leiter bei „Kulturprojekte Berlin“. Für die virtuelle Ausstellung „Nach Berlin“, die ab 2. Mai online gehen wird, hat er die letzten Tage des Krieges bis ins letzte Detail recherchiert. Als der Weltkrieg vor 75 Jahren endete, fand die entscheidende Schlacht um Berlin in Mitte statt.

Mehr über die Ausstellung lesen Sie weiter unten im Newsletter unter „Kultur“. Zunächst erzählt uns Weigel, was damals in Mitte passierte.

„Mitte war der letzte umkämpfte Bezirk“, sagt Weigel. „Das Ziel der Roten Armee war der Reichstag. Nach dem Prozess um den Reichstagsbrand 1933, bei dem eine Verschwörung von Kommunisten konstruiert werden sollte, war er zum wichtigen Symbol für Stalin geworden. Den galt es zu erobern.“ Der entscheidende Kampf fand am 29. und 30. April statt, doch schon vorher stand Mitte unter Artilleriebeschuss. Am 21. April 1945 hatte die Rote Armee die Berliner Stadtgrenze im damaligen Bezirk Weißensee überschritten. Vier Tage später war ganz Berlin eingekesselt.

„Neben dem Reichstag hatte die Rote Armee noch ein zweites Ziel: Findet Hitler!“ In Mitte befand sich die Schaltzentrale der Nationalsozialisten. Hier wurde erbittert gekämpft. Zur selben Zeit saß Adolf Hitler 300 Meter vom Reichstag entfernt in seinem Führerbunker. „Als die Sowjets eigentlich schon das Kommando in der Stadt übernommen hatten, fantasierte Hitler weiter von Entsatzarmeen, die Berlin von der Roten Armee befreien würden“, sagt Weigel. „Währendessen starben Tausende Kinder und alte Menschen, die das NS-Regime als Soldaten an die Front schickte.“

Am 30. April war der Reichstag erobert. Kurz davor beging Adolf Hitler Suizid. Laut Weigel starben beim Kampf um das Gebäude 2000 Soldaten, vorallem sowjetische. Am Ende wehte ein rotes Tuch aus einem der Fenster. Aber: „Das berühmte Foto von der Flagge der Sowjetunion auf dem Dach wurde am 2. Mai nachgestellt“, betont Weigel. Neun Fahnen in unterschiedlichen Größen hätten die Sowjets getestet, 36 Fotos seien so entstanden, bevor eines den Ansprüchen genügte.

Auch das Brandenburger Tor wurde als wichtiger Ort erobert. „Es war auf der ganzen Welt als Symbol für Berlin bekannt“, sagt Weigel. Am 30. April wurde es eingenommen. Die letzten Kämpfe fanden dem Historiker zufolge am 2. Mai um 15 Uhr im Humboldthain statt. „Berlin hatte zu diesem Zeitpunkt schon kapituliert.“ Doch die Nachricht war nicht überall hin durchgedrungen.

Was bleibt 75 Jahre nach diesem schrecklichen Krieg, wie erinnern wir uns daran? Für Weigel ist bedeutsam, dass wichtige Erinnerungsorte ganz bewusst nach Mitte geholt wurden, dorthin wo früher die Schaltzentrale der Nazis lag: Das Holocaust-Mahnmal, die Denkmäler für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas, für die verfolgten Homosexuellen und für die Opfer der nationalsozialistischen Euthanasiemorde. „Die Morde fanden damals absichtlich an Orten fernab der Öffentlichkeit statt. Umso wichtiger ist es, dass wir jetzt in der Mitte der Gesellschaft daran erinnern.“

Das Museum Karlshorst hat das Vorrücken der Roten Armee durch die Berliner Bezirke dokumentiert. Der Faltplan mit Bildern, anschaulichen Grafiken und Text kann für drei Euro beim Museum erworben werden. Das war der Weg der Roten Armee durch Mitte:

  • Am 24. April rückte die Rote Armee in den Wedding vor.
  • Am 25. April hatte sich eine kleine Einheit bis an den Rand des Alexanderplatzes gekämpft.
  • Am 26. April rückte die Rote Armee am Westhafen in den Bezirk Tiergarten vor. Zwei Tag lang wurde in Moabit schwer gekämpft.
  • Am 28. April standen sowjetische Truppen am Spreebogen (Bundeskanzleramt).
  • Am 28. April hatte die Rote Armee den Spittelmarkt, am 29. April das Viertel um den Potsdamer Platz in ihrem Besitz. Sie stand am Berliner Dom und hatte die obere Friedrichstraße eingenommen.
  • 29./30. Kampf um den Reichstag.
  • Am 30. April rückte die Rote Armee bis an das Brandenburger Tor vor.

Foto: Melanie Sapina

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