Nachbarschaft

Veröffentlicht am 06.05.2020 von Julia Weiss

Ein Jahr lang hat Yvonne Büdenhölzer mit ihrem Team ein analoges „Berliner Theatertreffen“ vorbereitet, wegen des Coronavirus musste sie es nun innerhalb von sechs Wochen in den virtuellen Raum verlegen. Sie wohnt in Moabit und leitet das Theaterfestival der Berliner Festspiele seit 2012. Jedes Jahr wählt eine Jury die zehn „bemerkenswertesten“ Theaterstücke aus dem deutschsprachigen Raum aus. Sechs davon sind nun im Internet zu sehen. Nicht nur das Streaming ist neu – zum ersten Mal galt bei der Auswahl eine Frauenquote. Mindestens 50 Prozent der Stücke mussten von Regisseurinnen sein. Das Programm läuft noch bis Samstag online.

Frau Büdenhölzer, Theater und Internet – das passt für viele nicht zusammen. Wieso haben Sie das Theatertreffen trotzdem in den virtuellen Raum verlegt? Wir haben das intern kontrovers diskutiert – lange hin und her überlegt. Das Festival ganz ausfallen zu lassen, konnten wir uns nicht vorstellen. Wir wollten gerade in dieser Zeit ein Zeichen für die Kunst und die Kultur setzen und solidarisch zu den Künstlerinnen und Künstlern sein, die jetzt eingeladen sind. Nun zeigen wir sechs Stücke im Stream. Wir machen das alles bei freiem Eintritt. Dadurch erreichen wir ein größeres Publikum, weltweit. Wir rufen aber zu Spenden auf für Künstlerinnen und Künstler, die in Not geraten sind.

Sie haben gesagt, dass das Theatertreffen dadurch demokratischer wird. Was meinen Sie damit? Theater ist grundsätzlich ein Ort, der nur einen kleinen Teil der Menschen erreicht, andere werden durch Schwellenangst, Sprachbarrieren, Geldmangel davon abgehalten. Schauspielhäuser arbeiten daran, sich weiter zu öffnen. Digitale Experimente und neue Formate können dabei helfen. Man kann einschalten, aber auch wieder ausschalten, wenn es einem nicht gefällt. Dadurch wird Theater leichter zugänglich. Beim virtuellen Theatertreffen gibt es auch ein Live-Diskussionsformat, bei dem Zuschauerinnen und Zuschauer über Twitter Fragen stellen können. Das wird sehr gut angenommen.

Sie zeigen nur sechs der zehn Stücke aus dem Progamm online. Welche eigneten sich nicht für den Stream? Wir haben die Regisseurinnen und Regisseure gefragt, ob sie dazu bereit sind. Florentina Holzingers Stück konnten wir beispielsweise nicht ins Netz stellen. Es ist ein Ballettstück, in dem 12 Tänzerinnen nackt auf der Bühne sind. Die Gefahr ist, dass solche Inhalte auf Seiten landen, wo sie nicht sein stehen sollten. Wir mussten abwägen. Grundsätzlich sind die Arbeiten nicht für die Übertragung im Internet gemacht worden. Bei der Produktion „Die Kränkungen der Menschheit“ von Anta Helena Recke wurde kritisiert, dass die Kamerafahrt die Szenen zu sehr vorgibt. Im Theater können die Zuschauenden selbst entscheiden, ob sie die Figur ansehen, die gerade spricht, oder nicht.

Nicht nur das Streaming ist neu am diesjährigen Theatertreffen – zum ersten Mal galt bei der Auswahl eine Frauenquote. Wieso? Seit 1964 waren 90 Prozent der ausgewählten Stücke von Männern inszeniert. Dass liegt daran, dass an den Theatern im deutschsprachigen Raum immer noch eine große Gender-Ungerechtigkeit herrscht. Frauen inszenieren oft nicht auf den großen Bühnen, sondern nur in der Nebenspielstätte. Wir als Theatertreffen können Impulse setzten. Es gibt viele gute Regisseurinnen, man muss sie nur empowern.

Für die Einführung der Quote wurden Sie kritisiert, es komme auf die Qualität der Stücke an und nicht auf das Geschlecht. Es gab 50 Prozent Zuspruch und 50 Prozent Kritik. Diejenigen, die sagen, es kommt auf die Qualität an, sagen doch durch die Blume, dass Frauen schlechteres Theater machen. Das ist fatal. Frauen sind nicht die schlechteren Regisseurinnen. Ich denke, das zeigt die diesjährige Auswahl eindeutig. Sogar sechs der zehn ausgewählten Stücke sind von Frauen. Die Genderdiskussion wurde nun durch die Digital-Diskussion überdeckt. Doch sie bleibt aktuell. Wir werden sie weiterführen und wir werden Frauen weiterhin fördern.

Die Theater könnten aufgrund der Corona-Pandemie noch länger geschlossen bleiben. Was bedeutet das für das Theatertreffen 2021? Meine Hoffnung ist, dass die Theater im Herbst wieder spielen dürfen und die Jury reisen kann, um Stücke zu sichten. Dauert es noch länger, wird es für uns schwierig. Normalerweise wählt die Jury aus 400 Arbeiten die zehn besten aus. Kann sie für nächstes Jahr zumindest aus 100 Stücken auswählen, hat das Theatertreffen noch die notwendige Relevanz. Weniger sollten es aber nicht werden.

Foto: Christoph Neumann

 

 

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