Nachbarschaft
Veröffentlicht am 20.05.2020 von Julia Weiss
Der Weg in den Tod führte mitten durch Moabit. Mehr als 30.000 Menschen wurden von Oktober 1941 bis Januar 1945 von der Synagoge in der Levetzowstraße zum etwa drei Kilometer entfernten Güterbahnhof Moabit getrieben. Je 700 bis 1000 Personen stiegen dort in Züge, die in die Konzentrationslager Minsk, Auschwitz oder Theresienstadt fuhren. „Auf dem Weg zum Bahnhof mussten die Menschen an dicht besiedelten Wohnvierteln vorbeigehen“, sagt Andreas Szagun von der Bürgerinitiative „Ihr letzter Weg“. „Es konnte jeder sehen, was dort passiert ist“.
Jahrelang haben sich Szagun und andere Mitglieder der Bürgerinitiative für einen Gedenkort am ehemaligen Güterbahnhof eingesetzt. Erst 2017 wurden Kieferbäume gepflanzt und Tafeln aufgestellt, um an die Deportation Tausender Juden zu erinnern. Für Andreas Szagun ist die Gedenkstelle zu klein, zu unscheinbar verglichen mit dem unbeschreiblich großen Verbrechen der Nazis. Der Bezirk Mitte sieht das auch so und will deshalb noch im Mai einen künstlerischen Wettbewerb ausschreiben. Kunst entlang der Wege zu den Deportationsbahnhöfen soll das Leid der Verfolgten mitten in Berlin wieder sichtbar machen. „Das können Fußabdrücke auf dem Boden sein oder zweidimensionale Silhouetten der Menschen als Skulpturen“, erklärt Szagun.
Bei einem Podiumsgespräch wurde das Vorhaben kürzlich erläutert. Neben Andreas Szagun nahmen daran Bezirksstadträtin Sabine Weißler (Grüne), der Historiker Thomas Lutz (Stiftung Topographie des Terrors, Berlin) und der Berliner Politologe und Historiker Thomas Irmer teil. (Das komplette Gespräch gibt es als Video auf YouTube.)
Was das neue Erinnerungsformat in Mitte nun vor allem zeigen soll: Die Verfolgung der Juden fand mitten in der Stadt vor den Augen aller statt. In Berlin gab es 15 Sammellager, zwölf davon befanden sich im heutigen Bezirk Mitte. Einrichtungen der jüdischen Gemeinde wie Synagogen, Krankenhäuser und Verwaltungsgebäude wurden von den Nationalsozialisten umfunktioniert und Teil ihrer Infrastruktur.
Aus ganz Berlin wurden die Verfolgten in die Sammellager nach Mitte gebracht und von dort zu den Bahnhöfen Moabit, Grunewald und dem Anhalter Bahnhof – sichtbar für die Berliner. „Der ein oder andere wird verschämt hinter der Gardine hervorgesehen haben“, sagt Szagun. „Andere haben offen am Fenster gestanden. Es gibt auch Berichte, dass Menschen vor Geschäften Beifall geklatscht haben, als die Menschen an ihnen vorbei in den Tod gingen.“
Foto: Andreas Szagun (1989)
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