Nachbarschaft

Veröffentlicht am 16.09.2020 von Julia Weiss

Peter Müller hat im Sommer viel Zeit in einer Halle verbracht. Er hat sein Karussell in alle Einzelteile zerlegt, die rosa Robbe neu lackiert und das grüne Seepferd. Um nicht verrückt zu werden, wie er selbst sagt. Jetzt fahren die Wagen endlich wieder im Kreis. Kinder lachen und winken ihren Eltern zu. Müller steht an der Kasse und verkauft Fahrkarten. Der Herbstrummel in Mitte ist das erste Volksfest für ihn in diesem Jahr. Und die letzte Chance, seinen Familienbetrieb zu retten.

Rund 70 Attraktionen stehen auf dem zentralen Festplatz am Kurt-Schumacher-Damm. Achterbahn, Schießbuden, Würstchenstände. Eine riesige Krake hebt ihre mechanischen Arme in die Luft. Menschen kreischen. Der „Herbstrummel“ ist nach dem „Schollenfest“ in Tegel das zweite Volksfest in Berlin, das trotz Corona-Pandemie stattfinden darf. „Wir sind es gewohnt, Krisen zu meistern“, sagt Müller. „Aber so schlimm wie jetzt war es noch nie.“ Normalerweise fährt er auf 18 Volksfeste. Nun ist die Saison fast vorbei und die Kassen sind leer. Manche seiner Kollegen hätten bereits aufgegeben und sich neue Jobs gesucht.

Die Stimmung auf dem Volksfest ist trotzdem fröhlich. „Wir freuen uns, wieder da zu sein“, sagt ein anderer Schausteller. Hinter ihm schwimmen Gummienten in einem Becken. Wer möglichst viele davon angelt, bekommt einen Preis. Familien drängen an den Stand. Wenn sie den Mindestabstand von 1,50 Metern nicht einhalten, werden sie ermahnt.

Vieles ist in diesem Jahr anders. Die Buden stehen weiter auseinander. Die Verkäufer arbeiten hinter Plexiglasscheiben. Die Besucher werden am Eingang gezählt. Mehr als 5000 dürfen nicht gleichzeitig auf das Gelände. Bisher waren es nicht mehr als 2200. Im Glaslabyrinth und in der Mäusestadt tragen die Menschen Masken. An jeder Bude hängt ein Spender mit Desinfektionsmittel. Durch die Auflagen entstehen den Veranstaltern nach eigenen Angeben 50.000 Euro Mehrkosten. Vor allem für zusätzliches Sicherheitspersonal.

Organisiert wird der Herbstrummel vom Schaustellerverband Berlin, dessen zweiter Vorsitzender Peter Müller ist. „Wir haben lange dafür gekämpft, dass Volksfeste wieder stattfinden dürfen“, sagt er. Freizeitparks durften schon im Juni wieder öffnen. Das hätten viele in der Branche als unfair empfunden. Doch Volksfeste mit Bier und Feierstimmung seien der Politik nicht geheuer gewesen. „Dabei haben wir immer gesagt: Es geht auch anders“, sagt Müller. „Aber das wollte lange niemand hören.“

Der Herbstrummel soll das nun beweisen. Schließlich geht es darum, ob Weihnachtsmärkte im Winter erlaubt werden. Für die Schausteller eine dringend benötigte Einnahmequelle. Mit dem neuen Konzept bekam das Volksfest in Mitte auch einen anderen Namen: „Herbstrummel“ statt „Oktoberfest“. Damit erst gar niemand auf die Idee komme, hier finden Trinkgelage statt, erklärt Müller. Wo sonst das Festzelt steht, ist jetzt ein Biergarten. Der bringe den Betreibern allerdings nur zehn Prozent des sonstigen Umsatzes ein.

Auf einer Bank vor einem Bäckerstand sitzt eine Mutter mit ihren beiden kleinen Kindern. Fühlt sie sich trotz Corona sicher? „Ja, alles fast wie früher“, sagt sie. So wie sie denken auch andere Besucher. Eine junge Frau, die mit fünf Stofftieren in den Armen vor eine Losbude steht, freut sich, dass sie endlich wieder auf ein Volksfest darf. „Vor Corona habe ich keine Angst“, sagt sie.

Der Schausteller hofft jetzt vor allem auf eines: Schönes Wetter, damit weiterhin viele Besucher kommen. Bisher sei das Volksfest genauso gut besucht wie vor der Corona-Pandemie. Für die Schausteller zählt nun jeder Euro. „Wir müssen den Winter überbrücken“, sagt Müller.

Dabei habe er es noch leichter als die Betreiber der richtig großen Fahrgeschäfte. XXL-Krake, Achterbahn oder Wildwasserbahn kosten circa 10.000 Euro Versicherung im Jahr. Dazu kommt der TÜV mit 6000 Euro. Der muss jedes Jahr abgenommen werden. Das bedeutet: Wer den TÜV auslässt, bekommt ihn nie wieder. Auch wenn das Fahrgeschäft ein Jahr still gestanden ist. Ausnahmeregelungen während der Pandemie gibt es nicht.

„Wenn die großen Fahrgeschäft erst einmal weg sind, ist auch die Stimmung weg“, sagt Müller. Dann seien die Volksfeste ernsthaft in Gefahr. Für das wenige Geld werde heutzutage niemand mehr Schausteller. Seine Familie arbeite seit fünf Generationen auf dem Rummel. „Wir hängen an unserem Beruf, deshalb machen wir das“, sagt er. Und die Freude der Menschen sei auch viel wert. Er zeigt auf ein kleines Mädchen, das lachend in seinem Karussell sitzt. „Wir machen so lange weiter, wie es geht.“

  • Der Herbstrummel gastiert noch bis 4. Oktober auf dem zentralen Festplatz am Kurt-Schumacher-Damm. Öffnungszeiten: Mittwoch und Donnerstag von 15 bis 21 Uhr, Freitag und Samstag von 15 bis 22 Uhr, Sonntag von 13 bis 21 Uhr.

+++ Dieser Text  von Julia Weiss erschien zuerst im Tagesspiegel-Newsletter für Mitte. Die Tagesspiegel-Newsletter für die einzelnen 12 Berliner Bezirke gibt es kostenlos und in voller Länge unter leute.tagesspiegel.de +++

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Foto: Julia Weiss

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