Nachbarschaft

Veröffentlicht am 06.01.2021 von Julia Weiss

Mark Rautenberg liegt auf dem Boden – neben ihm die gewölbte Betonwand des Tunnels und auf der anderen Seite die Gleise. Es ist stockfinster. Hinter sich hört er ein Rauschen, das immer lauter wird. Dann kommt die U-Bahn. Scheinwerfer und das Licht aus den Fenstern sausen an ihm vorbei. Die Räder rattern vor seinen Augen. Dann ist es wieder still.

Abends wenn es dämmert in Berlin und sich andere Menschen gemütlich auf die Couch setzen, startet der 35-Jährige seine Touren. Die führen ihn in verborgene Schächte tief unter der Erde, zu U-Bahntunneln und auf die höchsten Dächer der Stadt. Dort macht er Fotos. Mark Rautenberg wohnt im Wedding. „Ich will fotografieren, was vorher noch niemand fotografiert hat“, sagt er. Dafür geht er ungewöhnliche Wege und riskiert Anzeigen, denn in U-Bahntunneln zu spazieren, ist nicht erlaubt.

„Wenn eine Tür offen ist, gehe ich hinein“, sagt der Rautenberg. Manchmal kennt er  die richtigen Leute, die ihm einen Schlüssel überlassen. So gibt es kaum einen Tunnel in Berlin, in den er nicht kommt, sagt er. Dort unten sucht er nach seinen Motiven. Er fotografiert verlassene Tunnel und Geisterbahnhöfe, abgestellte S-Bahnen, Graffiti und Baustellen. Ihn fasziniert die Architektur – Gleise, Wände und Betonpfeiler. Underground Landscapes (Untergrund-Landschaften) nennt er seine Fotografien.

Jeden Tag zieht Mark Rautenberg los. Sein längster Aufenthalt unter der Erde dauerte achteinhalb Stunden. Einmal hat er sogar dort übernachtet. „Es ist nicht einfach, bei den Lichtverhältnissen zu fotografieren“, sagt er. Deshalb benutzt er ein Stativ und eine hochwertige Kamera. Auch die Nachbearbeitung der Fotos sei wichtig.

Kurz nachdem der U-Bahnhof Französische Straße geschlossen worden war, machte Rautenberg auch dort Fotos. „Ich musste schnell sein, bevor alles mit Graffiti vollgesprüht wird“, sagt er. Seine Bilder zeigen die Abstellanlage im Nordbahnhof und die Gleisverlegungen für die kommende S15. Auf anderen Bildern sind Schlaflager von obdachlosen Menschen in sonst leeren Tunneln zu sehen. „Berlin ganz unten“ heißt die Reihe. „Ich will auch zeigen, was viele gar nicht sehen wollen“, sagt Rautenberg.

Bevor der Fotograf den Berliner Untergrund fotografierte, stieg er auf die höchsten Dächer der Stadt – das macht er auch heute noch. Von dort lichtet er Gebäude ab, die ihn faszinieren wie die Wohnblöcke in der Gropiusstadt oder Häuser vor dem Volkspark Humboldthain. „Ich achte immer darauf, dass meine Motive aus diesen Blickwinkeln noch nie fotografiert wurden“, sagt er. Dafür durchsucht er das Internet. Gibt es die Aufnahme so noch nicht, zieht er los.

Architektur fotografieren  das ist der offensichtliche Antrieb von Mark Rautenberg. Aber ihm gefällt noch etwas anderes an seinen Motiven: die Beständigkeit. Der 35-Jährige lebt in einem Wohnblock im Wedding. Dort beobachtet er, wie sich die Stadt verändert. Dass immer mehr Hipster, wie er sagt, in die Kieze ziehen und die Mieten in die Höhe treiben – „bis sie sich auch die Zugezogenen nicht mehr leisten können“. Rautenberg würde sich wünschen, dass sich nicht alles so schnell verändert. Weit oben auf den Dächern oder unter der Erde bekommt er davon nichts mit. „Wenn so ein Tunnel erst einmal da ist, dann bleibt er für immer“, sagt er.

  • Die Fotografien von seinen Touren veröffentlicht Mark Rautenberg regelmäßig  unter diesem Link.

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