Nachbarschaft

Veröffentlicht am 24.02.2021 von Julia Weiss

Theresa Keilhacker folgt dem Geräusch der Kettensägen. Sie läuft über eine schmale Betonbrücke, die zum Hochhaus führt. Das Gebäude, das ihr so sehr am Herzen liegt, ist ein massiver brauner Würfel mit weißen Fenstern. Von den Rahmen splittert der Lack. Im Hof stehen zwei Männer, die Bäume fällen und in Stücke zersägen. Der Abriss scheint kurz bevor zu stehen.

Man muss schon etwas von Architektur verstehen, um den Wert das ehemaligen Jugendzentrums in der Rathenower Straße in Moabit zu erkennen. Theresa Keilhacker ist Teil der Initiative „Wem gehört Berlin“ und kämpft für dessen Erhalt. Das Ensemble ist im Stil des Brutalismus gebaut. Der Begriff geht auf das französische béton brut zurückalso dem „rohen Beton“ oder auch Sichtbeton, wie er ab den 1960er Jahren verbaut wurde. Ein weiteres Beispiel in Mitte ist die Tschechische Botschaft an der Wilhelmstraße.

„Jahrelang hat man das Gebäude verfallen lassen“, sagt Keilhacker. „Und jetzt wollen sie es zerstören.“ An das würfelförmige Hochhaus schließt ein Flachbau an. Der soll abgerissen werden. Vergangenes Jahr wurde das landeseigene Grundstück der WBM übertragen, die es wiederum an die GSE verpachtete. Die landeseigene Wohnungsbaugesellschaft will neben das Hochaus ein weiteres hohes Gebäude bauen, mit Platz für 81 geförderte Wohnungen. Das Ensemble von Hochhaus und Flachbau wäre damit allerdings zerstört, kritisiert die Initiative.

Städtebaulich spreche trotzdem einiges dafür, sagt WBM-Sprecher Christoph Lang. Das Gelände solle freundlicher und zugänglicher werden mit einer Rasenfläche, die von der Straße zum hinter dem Gebäude liegenden Park führt. Momentan stehe das Haus in bester brutalistischer Tradition skulptural für sich selbst. „Das macht die Faszination aus, aber das hat auch immer etwas Abweisendes“, sagt er. Heutigen städtebaulichen Anforderungen werde das nicht gerecht. Außerdem würden dringend benötigte Familienwohnungen geschaffen.

Die sozialen Einrichtungen, die das teils seit Jahren leerstehende, landeseigene Gebäude nutzen, werden nicht verdrängt, verspricht die WBM. Das hatte ihr die Initiative „Wem gehört Berlin“ vorgeworfen. Die Wohnungsbaugesellschaft weist das zurück. Organisationen wie das SOS Kinderdorf, die Kiezküche und eine Moschee dürften alle bleiben. Am Ende soll ein Ort mit experimentellen Wohnformen und sozialen Angeboten entstehen.

Gegen den Umbau wehrt sich nun auch der Architekt Günter Plessow. Er hatte das Gebäude in den 70er Jahren mit entworfen und sieht seine Urheberrechte verletzt. Bei dem Gebäude handle es sich um ein „Werk der Baukunst“, das auch am Tag des offenen Denkmals im vergangenen Jahr große Beachtung gefunden habe. Der WBM und dem Bezirk Mitte wirft er Geschichtsvergessenheit vor. „Ich halte das Bauvorhaben planungsrechtlich (…) für illegal“, schreibt er in einem Brief, der dem Tagesspiegel vorliegt. Dagegen wolle er rechtlich vorgehen.

Dass Brutalismus-Gebäude vom Abriss bedroht sind, ist keine Seltenheit. Erst vergangenes Jahr richtete sich eine Online-Petition mit 6000 Unterschriften gegen die Zerstörung des „Mäusebunkers“, des ehemaligen Tierversuchs-Labors auf dem Charité-Geländer (wir berichteten). Das Deutsche Architekturmuseum macht in der Kampagne SOS Brutalismus auf bedrohte Gebäude in ganz Deutschland aufmerksam. „Der Denkmalschutz hinkt da hinterher“, sagt Theresa Keilhacker. Es sei nicht unüblich, dass 50 bis 60 Jahre vergehen, bis Baustile als schützenswert anerkannt werden.

Für die Architektin ist das auch eine Frage der Nachhaltigkeit. „Alleine für die Kosten des Abrisses könnte man das komplette Gebäude in Stand setzen“, sagt sie. Auch sie wolle das Gebäude wieder attraktiver machen, mit mehr Grünflächen und Bäumen. Das sei auch viel ressourcensparender und umweltfreundlicher als der Neubau. Dass man landeseigene Häuser verfallen lässt, sei typisch für Berlin, sagt sie. „Und am Ende heißt es dann: Das muss weg.“

Foto: Thomas Ernst Fotografie

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