Namen & Neues
Mauerfall und Wiedervereinigung in Neukölln - aus der Retrospektive der 9-Jährigen Greta
Veröffentlicht am 03.10.2018 von Maria Kotsev
Am Abend des 9. November 1989 saß die 9-jährige Greta in ihrem Kinderzimmer in einer Rixdorfer Mietswohnung und bastelte. Nebenbei lief das Radio. Auf einmal kündigte der Sprecher eine Programmunterbrechung an. Es folgte die Schalte zum Reporter. Was der zu berichten hatte, sollte in den folgenden Jahren die politische Weltordnung verändern. Und Gretas Neukölln. Doch das verstand das kleine, blonde Mädchen an diesem Abend noch nicht.
Gretas Mutter zog mit ihr nach Neukölln, als sie fünf Jahre alt war. Und da die Mieten damals in Neukölln niedriger waren als in Wilmersdorf, wo die Familie zuvor gewohnt hatte, fanden Mutter und Tochter am Richardplatz ihr neues Zuhause. Was Greta am stärksten mit dem Neukölln ihrer Kindheit verbindet, sind die Gerüche, wie sie nun nach über 30 Jahren erzählt. Der der Kindl-Brauerei natürlich. Rußiger Ofengeruch. Und, sie hält kurz inne, der Duft nach Schokolade. „Und überhaupt war es einfach kuscheliger, ruhiger damals in den Achtzigern in West-Berlin, die eine Hälfte war ja zu.“ Ganz im Gegensatz zu den Neunziger Jahren, in denen sich die Stimmung auf den Straßen verschärft hatte.
Das Zusammenleben von Menschen aus verschiedensten Ländern im Bezirk empfand Greta hingegen immer als bereichernd: „Es war ein positives Multikulti“, fand sie. Auch wenn es nicht immer funktionierte, fühlte Greta sich als Kind wohl mit der „orientalischen Prägung“ im Bezirk. Dass sie auf eine Schule gehen durfte, auf der über 50 Ethnien vertreten waren, das war für sie ein Privileg. Dass das nicht immer von allen so wahrgenommen wurde, begriff sie erst später.
Was die kleine Greta aber schnell begriff, war, dass sie im Herbst 1989 und dem darauffolgenden Jahr eine enorm prägende, historisch bedeutende Zeit miterlebte. Also versuchte sie, möglichst viel davon zu behalten. „Mein Vater meinte zu mir, ich solle mich an so viel wie möglich erinnern…in der Schule sagte man uns am Tag nach dem Mauerfall, vielleicht würden wir noch unser Leben lang von dieser Zeit erzählen“. Und so ist es auch bei Greta. Ihre Geschichte hat sie schon etliche Mal erzählt. Unter anderem auch, als sie als Stadtführerin in Berlin arbeitete.
Also zurück zum Abend des Mauerfalls. „Das war lustig!“, ein Grinsen huscht über ihre dünnen Lippen, „Der Reporter im Radio stotterte: ‚Die Mauer wird wohl geöffnet, die Leute kommen rüber!'“. Doch als Kind wusste Greta nicht, welche Mauer denn gemeint war. „Er sagte aber nicht ‚Berliner Mauer‘ oder etwas von ‚DDR'“, was das Kind damals etwas irritierte. Einige Tage zuvor hatte Greta ihre Mutter nämlich gefragt, ob es sein könnte, das die Mauer fällt. Im Umfeld wurde natürlich darüber gesprochen. Aber Gretas Mutter antwortete damals: „Das wäre toll, aber das passiert bestimmt nicht.“ Also könne da gar nicht die Berliner Mauer gemeint sein. Man gewöhne sich so schnell an seine Lebensrealität, dass die 9-Jährige Greta nicht ausschloss, dass es auch woanders Mauern geben musste. Erst am nächsten Morgen lüftete sich das Mauer-Geheimnis für Greta: Als sie an den Frühstückstisch kam, empfing ihre Mutter sie freudig mit den Worten: „Greta, wir können jetzt Ausflüge machen!“ Schon 1989 begann die Mutter, den ersten Ausflug ins Grüne zu planen, im Jahr darauf machten Mutter und Tochter ihn auch. „Daran merkt man, das war ein großes Ding für uns“, erklärt Greta. „Die Ausflüge sind auch mit die stärksten und besten Erinnerungen, die ich an die unmittelbare Zeit nach der Wende habe.“
Greta erinnert sich aber auch an die Tage unmittelbar nach dem 9. November 1989. Das Schlagwort, das da fällt: Voll. „Es war irre, unglaublich voll überall.“, Greta schüttelt leicht den Kopf, erzählt aber immer klar, nahezu sachlich. „Plötzlich fuhren Autos auf den Straßen, die ich zuvor noch nie gesehen hatte. Und alle gingen einkaufen. Die Karl-Marx-Straße, der Karstadt am Hermannplatz, da war alles abgeräumt.“ Sie erinnert sich noch, wie sie am Tag nach dem Mauerfall aus einem Laden rausgeschmissen wurde, weil die Besitzerin schließen wollte – nach einer Stunde kam sie noch mal an dem Geschäft vorbei und es hatte immer noch offen, denn die Nachfrage wollte an dem Tag einfach nicht verebben. Voll war es auch in den Bahnen – und die Menschen, die damit fuhren. „Da waren lauter kaufgeile, besoffene Erwachsene“, die die kleine Greta damals aus der Bahn schubsten. Wenn sie heute noch Fotos von der überfüllten U1 von damals sieht, fragt sie sich, wie ihre Mutter sie überhaupt hat alleine Bahnfahren lassen.
Als die erste Welle der Aufregung vorbei war, machten sich die Veränderungen im Bezirk eher schleichend bemerkbar, findet Greta. „Es gab immer viele Freizeitangebote für Kinder und Jugendliche. Galerien, die Workshops für Kinder anboten, ein oder zwei Jugendzentren in meiner Nähe und ein Mädchenzentrum“. Doch nach der Wiedervereinigung hatten diese Einrichtungen immer seltener offen. „Da merkt man, dass die finanziellen Mittel weggefallen sind und es Kürzungen im sozialen und kulturellen Bereich gab“, erklärt die heute 38-Jährige.
Dass nicht alle die deutsch-deutsche Wiedervereinigung begrüßten, merkte Greta damals auch schnell. Sie erinnert sich aber auch gut an Gegendemos von der „alternativen Szene, die gegen die Wiedervereinigung auf diese Art“ war. „Die Demos von vereinigungskritischen Gruppen wurden mit enormen Polizeibataillons begleitet. Das war als Kind ziemlich eindrücklich“. Für sie selbst war die Wiedervereinigung aber „eine gute Sache“, erklärt Greta bestimmt. „Wir haben uns unheimlich gefreut, auf die neuen Leute und was man jetzt alles machen kann“. Und natürlich wollte sie auch mit ihrer Mutter auf die Einheitsfeier am 3. Oktober 1990. Ganz so toll war die aber nicht: „Naja, es gab Musik, es war voll, kalt, ich war heiser und habe fast meine Mutter in der Menge verloren“, meint Greta schulterzuckend. „Ach, und die Grünen haben Kondome verteilt und ‚Viel Spaß bei der Wiedervereinigung‘ gewünscht“.
Für mehr Retrospektiven auf das frühere Berlin, empfehle ich übrigens sehr die Seite „Berliner Kindheiten„. Hier erzählen Menschen verschiedensten Alters aus ihrem Leben, sehr spannend!