Namen & Neues
Was wussten die Behörden? Rechte Anschlagsserie in Neukölln
Veröffentlicht am 27.03.2019 von Madlen Haarbach
Am 16. März tauchten rechtsextremistische Morddrohungen in Wohnhäusern in Nord-Neukölln auf. „9 mm für …“ stand in roter Sprühfarbe an zwei Hauswänden, gefolgt von den Klarnamen der Bedrohten. In zwei weiteren Fällen wurden Menschen mit Klarnamen beleidigt. Bei den Opfern handelt es sich nach Informationen des Tagesspiegels um politisch engagierte Menschen, darunter auch einen Mitarbeiter der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin (MBR). „Das sind Menschen, die die Rechtsextremen offenbar als ihre politischen Feinde betrachten“, sagte Bianca Klose von der MBR. Zuerst hatte die taz über die Drohungen berichtet.
Die gesprühten Morddrohungen waren am Donnerstag auch Thema in der Fragestunde des Abgeordnetenhauses. „Wir haben eine Ermittlungsgruppe eingesetzt und treffen uns mit Opfern dieser Anschläge. Aus Sicht des Landes handelt es sich um Anschläge, die durchaus als Terrorismus eingeschätzt werden können“, sagte Innensenator Andreas Geisel (SPD) auf die Frage der Linkspolitikerin Anne Helm, was dem Senat zu den Morddrohungen bekannt sei. „Ich sage deutlich, bei extremistischen Anschlägen sind wir mit aller Kraft dabei, die mutmaßlichen Täter dingfest zu machen.“
Auf die Frage, ob dem Staatsschutz bekannt sei, dass Opfer monatelang von Neonazis ausgespäht worden seien, antwortete Geisel: „Da laufen die Ermittlungen noch. Aus ermittlungstaktischen Gründen darf ich darüber öffentlich nicht sprechen.“ Die Berliner Ermittlungsbehörden haben mit der Generalbundesanwaltschaft Kontakt aufgenommen. Ob diese die Ermittlungen übernimmt, ist laut Geisel „noch offen“. (tagesspiegel.de)
Das RBB-Magazin „Kontraste“ berichtet, dass sowohl Verfassungsschutz als auch Polizei bereits seit längerem die beiden Tatverdächtigen Sebastian T. und Thilo P. beobachtet hätten. Trotz vieler Hinweise, dass der Linken-Politiker Ferat Kocak in Gefahr war – etwa durch abgehörte Telefonate – wurde dieser nicht gewarnt. Auf Kocak wurde am 1. Februar 2018 ein Brandanschlag verübt, der leicht zur Katastrophe hätte werden können (tagesspiegel.de). „Die Behörden haben in Kauf genommen, dass meine Familie und ich in diesem Haus mit verbrennen“, sagte Kocak dem RBB. Der Verfassungsschutz soll etwa SMS mitgelesen und Telefonate abgehört haben, bei denen die beiden Verdächtigen bereits ein Jahr vor dem Anschlag eine Verfolgung Kocaks vereinbarten. Spätestens im September 2017 soll auch das Berliner Landeskriminalamt Gespräche der beiden Verdächtigen mitgehört haben. Zwei Wochen vor dem Anschlag hörte der Verfassungsschutz mit, wie Kocak von T. und P. bis zu seiner Haustür verfolgt wurde. Nun hatten die beiden Tatverdächtigen seine Adresse – doch die Behörden schritten nicht ein. Auch im Bundestag regt sich mittlerweile Kritik an der Arbeit der Berliner Behörden. Die Tatverdächtigen sind derweil weiter auf freiem Fuß, die Anschläge bis heute nicht aufgeklärt. (mediathek.daserste.de)
Auch die taz hatte bereits im Januar berichtet, dass der Verfassungsschutz über Hinweise verfügte, dass die Tatverdächtigen Anschläge planten. (taz.de)
Mirjam Blumenthal, Fraktionsvorsitzende der SPD in der Neuköllner Bezirksverordnetenversammlung und selbst Opfer eines Brandanschlages, fordert im Gespräch mit dem Tagesspiegel Konsequenzen. „Es gibt zwei Dinge, die jetzt zu tun sind: Ein Untersuchungsausschuss muss sich mit den rechten Nazi-Aktivitäten in Neukölln auseinandersetzen, speziell auch mit Blick auf die Fälle des NSU“, sagt sie. Nach der Zerschlagung des NSU seien etwa die Engagierten des Anton-Schmaus-Hauses der Neuköllner Falken darüber informiert worden, dass das Haus ebenfalls auf der Liste des NSU stand. Auf das Anton-Schmaus-Haus wurde am 27. Juni 2011 ein Brandanschlag verübt – nur eine Nacht, nachdem eine Kindergruppe dort übernachtet hatte. „Zweitens müssen die beteiligten Behörden auch Fehler in den eigenen Reihen in Betracht ziehen: Gibt es vielleicht ein Loch im System?“, sagt Blumenthal. Sie warne davor, die Drohungen nicht ernst zu nehmen. „Das ist eine Warnung an alle Engagierten in Neukölln, nicht nur an die namentlich erwähnten“, so Blumenthal.
Es stelle sich vor allem die Frage, woher die Täter an die Adressen der Opfer kommen, betont auch Bianca Klose vom MBR. Blumenthal berichtet von Neonazis, die bei Veranstaltungen Autokennzeichen notieren würden. Unbestätigten Gerüchten zufolge soll ein NPD-Politiker als Briefzusteller in Teilen von Nord-Neukölln und Kreuzberg arbeiten. Auch die Geschichte von Ferat Kocak zeigt, wie Neonazis Engagierte ausspionieren und sogar nach Hause verfolgen.
Parallel berichtet Blumenthal, dass Betroffenen der Anschlagsserie der Polizeischutz gekürzt worden sei. Einige stünden noch unter Schutz, andere aus unklaren Gründen nicht mehr. Ihr eigener Schutz sei gekürzt worden, ohne dass sie selbst darüber informiert worden sei.