Namen & Neues
Neuköllner "Siedler" fürchten um ihre Grundstücke
Veröffentlicht am 03.04.2019 von Madlen Haarbach
87 Familien aus den Wohnsiedlungen Neue Heimstatt (Buckow) und Am Vogelwäldchen (Rudow) fürchten die Verdrängung aus ihren Eigenheimen. Ihre Häuser stehen auf städtischem Grund und werden seit Jahrzehnten über das Erbbaurecht an die Siedler verpachtet. Nun befürchten sie jedoch, dass ihnen im wörtlichen Sinne der Boden unter den Füßen entzogen werden könnte. Denn die Grundstücke sollen zu Konditionen verpachtet werden, die den aktuellen Marktbedingungen entsprechen – oder von den Siedler*innen direkt gekauft werden. Beides ist für viele Familien finanziell nicht leistbar. Dabei ist die ursprüngliche Idee der Erbbaurechtsiedlungen genau das Gegenteil: Finanziell schwächeren Familien ein Eigenheim ermöglichen und gleichzeitig Bodenspekulation verhindern.
„Die Leute sind hier in dem Bewusstsein eingezogen, für immer bleiben zu dürfen“, sagt Dieter Herrmann. Er ist 69 Jahre alt und wohnt seit 25 Jahren mit seiner Familie in der Siedlung Neue Heimstatt.
Die beiden Siedlungen entstanden in den 50er Jahren mit einem sozialen Konzept. Die Einzugsbedingung: Ein Wohnberechtigungsschein und mindestens zwei Kinder. Viele investierten ihre gesamten Ersparnisse in die Häuser und nahmen zusätzliche Kredite auf. Viele betrachten ihre Häuser als ihr Lebenswerk. Einige wohnen seit dem Kleinkindalter in der Siedlung. Die aktuellen Pachtverträge laufen bis 2031 (Neue Heimstatt) beziehungsweise 2033 (Am Vogelwäldchen).
2006 trat der Bezirk Neukölln auf die Siedler zu: Ob sie sich vorstellen könnten, ihre Grundstücke zu kaufen? Rund die Hälfte der Siedler signalisierte Kaufinteresse. Die tatsächlichen Kaufpreise wurden erst drei Jahre später verkündet – und waren für viele ein Schock, sagt Herrmann. Dennoch kauften viele in den kommenden Jahren. Nach einem plötzlichen Verkaufsstopp 2013 stiegen die Kaufpreise massiv an, sie wurden im Zuge einer Gesetzesänderung an die tatsächlichen Bodenwerte angepasst. 2017 bot der Bezirk den Siedlern schließlich doch eine Pachtverlängerung an – allerdings ebenfalls gekoppelt an die Bodenwerte. Der Pachtwert würde dadurch in den kommenden Jahrzehnten um fast das 30-fache des aktuellen Wertes steigen.
Insgesamt 87 von 194 Wohneinheiten können weder die erhöhten Pachtgebühren noch die Preise für den Kauf der Grundstücke finanzieren. Zwar sind die aktuellen Pachtverträge nicht in Gefahr, doch sobald sie auslaufen fürchten die Siedler die Enteignung ihrer Grundstücke.
Das Bezirksamt verweist darauf, dass es in dem Punkt keine eigene Regelungshoheit habe. Die Befugnis liege bei Senat und Abgeordnetenhaus. Die Senatsverwaltung für Finanzen wiederum erklärt, dass aufgrund der Landeshaushaltsordnung eine Vergabe der Grundstücke unter Verkehrswert nicht zulässig sei.
Gaby Gottwald, die für die Linkspartei im Ausschuss für Stadtentwicklung im Abgeordnetenhaus sitzt, sieht den Fall etwas anders. In der Senatsverwaltung für Wohnen sei das „Kuddelmuddel“ so nicht bekannt gewesen, sagte sie dem Tagesspiegel. Die Vorgänge würden gegen die aktuelle Politik des rot-rot-grünen Senats verstoßen, der die Privatisierung von landeseigenen Grundstücken verhindern wolle. Aktuell sei offenbar vorgesehen, die Grundstücke auf ihre gegenwärtige und zukünftige Nutzungsperspektive hin zu untersuchen. Sebastian Scheel, Staatssekretär für Stadtentwicklung und Wohnen, möchte sich demnach persönlich darum kümmern, das Chaos zu ordnen.
Bezirksbürgermeister Martin Hikel (SPD) zeigt sich derweil verständnisvoll und verspricht, sich noch im Frühling mit den Betroffenen zu treffen, um eine gemeinsame Lösung zu finden.