Namen & Neues

Jubiläum: Zehn Jahre BVV ohne Livestream

Veröffentlicht am 26.08.2020 von Madlen Haarbach

Am 24. August 2010, also genau vor zehn Jahren, plante der – damals noch Bezirksverordnete, mittlerweile Stadtrat – Grünenpolitiker Jochen Biedermann, die Neuköllner Bezirksverordnetenversammlung in das neue Zeitalter zu katapultieren. In einem Antrag, der am 1. September 2010 mit den Stimmen von SPD und CDU abgelehnt wurde, forderte er das Bezirksamt dazu auf, zu prüfen, „ob eine direkte Übertragung der Sitzungen der Bezirksverordnetenversammlung ins Internet (sog. Livestream) möglich ist.“ Zeitsprung: Zehn Jahre später übertragen viele Bezirke ihre BVV-Sitzungen via Livestream ins Internet. Nur Neukölln, wo es auch nach wie vor kein Wlan im Rathaus gibt, hinkt weiter hinterher. Im Interview spricht Biedermann über den steinigen Weg ins 21. Jahrhundert:

Herr Biedermann, es ist ziemlich genau zehn Jahre her, dass Sie die BVV mit einem „sogenannten Livestream“ ins Internet übertragen wollten. Das würde ich heute auch nicht mehr so schreiben (lacht).

Was war denn damals die Ausgangssituation, die Sie dazu bewogen hat, den Antrag zu stellen? Vor zehn Jahren war die Situation in der BVV noch ein stückweit eine andere als heute, gerade auch was die mediale Anwesenheit anging. Das, was heute ja passiert, dass die gesamte BVV über Presse anwesend ist und darüber auch berichtet, das war vor zehn Jahren völlig undenkbar. Das gab es einfach nicht. Maximal, wenn etwa Buschkowsky (Anm.: gemeint ist der damalige Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky) für irgendeinen Aufreger gesorgt hat, ist die Presse kurz eingeflogen und hat sich das „Wort des Bürgermeisters“ angehört und ist wieder abgezogen.

Ich fand das immer sehr frustrierend, in einer auch sehr verhärteten politischen Situation abends um 10 Uhr politische Reden vor leeren Zuschauerrängen zu halten. Ich wollte, dass mehr Neuköllner*innen mitkriegen und mitkriegen können, was hier verhandelt wird. Damals fingen Livestreams gerade an, sich durchzusetzen. Ich fand, das sollte auch in Neukölln gehen. Die BVV wurde damals ohnehin vom „Offenen Kanal“ aufgezeichnet und dann irgendwie eineinhalb Monate später nachts zwischen 3 und 5 Uhr wahrscheinlich gesendet, zumindest habe ich die Aufzeichnungen nie gesehen.

Wie lief die Abstimmung damals ab? Ich habe mich sehr geärgert, ich lag bei der Sitzung, bei der das Thema auf der Tagesordnung war, mit Grippe im Bett – und hätte mich da sehr über einen Livestream gefreut, um die Debatte wenigstens verfolgen zu können (lacht). Stattdessen hat die damalige Mehrheit aus SPD und CDU noch nicht einmal der Ausschussüberweisung zugestimmt, das heißt, es gab noch nicht einmal die Möglichkeit, darüber in einem Ausschuss im Detail zu reden, wie so etwas gehen könnte. Stattdessen wurde der Antrag direkt im Plenum abgelehnt, wie ich am nächsten Tag dann von anderen Bezirksverordneten erfahren habe. Damals gab es ja auch noch kein Twitter, über das man mitlesen konnte. Da war ich dann deprimiert.

Mit welcher Begründung wurde der Antrag damals abgelehnt? Damals war es ja nicht wirklich nötig, eine Begründung zu finden, um einen Antrag der Grünen abzulehnen. Aber das war so eine Mischung aus Themen, die ja auch heute noch in der Debatte sind – die Persönlichkeitsrechte von Bezirksverordneten, die ja ehrenamtlich sind, und wenn das dann im Internet zu sehen ist… Das war offensichtlich damals noch mehr als heute für sehr viele der Bezirksverordneten Neuland und einfach jenseits der Vorstellungskraft. Nach dem Motto: „Das haben wir noch nie so gemacht, wo kämen wir denn da hin?“

Nun sind zehn Jahre vergangen und Sie sind mittlerweile selbst Teil des Bezirksamtes. Einen Livestream gibt es aber – im Gegensatz zu vielen anderen Bezirken – immer noch nicht. Das bedauere ich nach wie vor, wobei die Situation finde ich, wie schon gesagt, ein bisschen eine andere geworden ist, dadurch, dass die BVV zumindest über Twitter und die Presserezeption präsenter ist. Wir haben damals ja wirklich Theater vor leeren Rängen gespielt. Das ist heute anders – selbst eine Debatte, die Abends um 10 Uhr stattfindet, taucht unter Umständen im Tagesspiegel Newsletter auf. Das war damals undenkbar. Der Livestream war auch ein Punkt, den wir 2016 mit in die rot-grüne Zählgemeinschaft eingebracht haben.

Es gab mittlerweile auch mit anderen Bezirken Diskussionen etwa zur rechtlichen Einschätzung. Ich halte alle Bedenken für lösbar. Ansonsten bin ich persönlich der Meinung, dass, wenn ich in einem öffentlichen Parlament, in einem gewählten Amt öffentlich meine Meinung vertrete, ich auch keine Angst davor haben darf, dass das aufgezeichnet oder darüber berichtet wird. Aber das ist nicht Sache des Bezirksamtes, insofern kann ich mich in die aktuellen Debatten nicht mehr einmischen. Das muss die BVV selbst entscheiden. Ich würde das weiter begrüßen, weil ich persönlich es gut fände, wenn mehr Menschen einen direkten Einblick bekommen würden, wie sich gewisse Fraktionen und Personen gebaren.

Meinen Sie, dass tatsächlich viele Bürger*innen den Livestream gucken würden? Ich glaube jetzt nicht, dass das der Blockbuster wird, der die Neuköllner Straßen leerfegt und ab 17 Uhr sitzen alle gebannt vor ihren Monitoren (lacht). Aber es ist ja auch so, dass immer wieder Bürger*innen mit speziellen Anliegen, weil sie sehen, dass ein Punkt der sie interessiert auf der Tagesordnung steht, kommen. Und nach drei Stunden gehen sie dann frustriert wieder, weil das Thema noch nicht dran war. Vielleicht könnte man da auch einfach ein System installieren über das man nachschauen kann, wo wir gerade in der Tagesordnung stehen. Ich finde, dass es schon sehr viel einfacher ist, abends um 21.30 Uhr für eine halbe Stunde auf den Monitor zu gucken und zu sehen, wie sich die unterschiedlichen Fraktionen präsentieren, als um 17 Uhr ins Rathaus zu kommen und da dann bis 22.30 Uhr auszuharren und im Zweifelsfall frustriert nach Hause zu gehen. Das erzeugt aus meiner Sicht schon auch Politikverdrossenheit, weil die Leute dann eben nicht mehr kommen. Das finde ich sehr schade.

Gibt es aktuell Bestrebungen, einen Livestream einzuführen? Es gibt einen Antrag, der meines Wissens im Geschäftsordnungsausschuss mittlerweile positiv goutiert worden ist. Aber ich kenne den letzten Stand nicht.

Das heißt, es gibt zumindest Hoffnung, dass es irgendwann doch möglich sein wird, die BVV im Internet zu verfolgen – und vielleicht gibt es dann sogar Wlan im Rathaus? Ich gebe die Hoffnung nicht auf (lacht). Ich glaube, es ist unausweichlich. Wlan wäre auch noch großartig, aber wir fangen mal klein und bescheiden an, arbeiten die Aufgaben von vor zehn Jahren ab und nähern uns dann langsam der Zukunft.