Kiezgespräch

Veröffentlicht am 13.01.2021 von Madlen Haarbach

Einer von jenen, an denen viele einfach vorbeigehen. Und doch ein Leben, das voller war als viele andere: Vor rund 33 Jahren wurde Marco Reckinger , der sich später Markus nannte, in Brasilien geboren. Er wurde in Luxemburg adoptiert, wuchs dort in der Kleinstadt Didelingen auf. Er studierte Tontechnik in Paris, war für Elektro- und Hip-Hop-Projekte wie „Christal and Crack“, „Markus Aurelius“ und als „CRCKSN“ bekannt, wie unter anderem die luxemburgische RTL berichtet. 2012 strandete er in Berlin, lebte wohl seit etwa 2015 überwiegend auf der Straße. „Als Kind war er ein aufgedrehter, hyperaktiver Flummi“, sagte sein Freund Max Thommes in einer im Video festgehaltenen Rede. Zuletzt lebte Marco im Eingang der Herrfurthstraße 4 im Schillerkiez, obdachlos.

Am 8. Januar endete sein Leben dort, morgens soll er aus bislang ungeklärter Ursache tot auf seiner Matratze gelegen haben. „Solange ich Marco kannte, und das waren immerhin mehr als 20 Jahre, hat er nie auch nur einen Moment an dem Leben gezweifelt, das er zu der Zeit geführt hat“, sagte Max Thommes in seiner Rede vor Marcos letzter Schlafstätte. Am Sonntag fand eine kleine Gedenkveranstaltung mit Dutzenden Anwohner*innen und Freund*innen von Marco statt. „Um ihn ranken sich unzählige Geschichten, die teils stimmen, teils riesige Luftschlösser sind. Die Wahrheit lag in seinem Leben meistens irgendwo dazwischen verborgen.“ Thommes beschreibt Marco als unglaublich charmant, als „Naturgewalt“, als „Vorbild“.

Gleichzeitig regt sich auch Kritik – an einer Gesellschaft, die obdachlose Menschen häufig ignoriert. An einem Sozialpsychiatrischen Dienst, der seit langem unzureichend ausgestattet und unterbesetzt ist, auf Anrufe schlicht nicht reagiert (tagesspiegel.de). Anwohnende berichten, dass sie bei Hinweisen an die Polizei und Krisendienste nur von einer Stelle an die nächste verwiesen worden seien. Hannes Rehfeldt, Sprecher des Gesundheitsamtes, sagte meiner Kollegin Teresa Roelcke auf Nachfrage, dass Marco dem Sozialpsychiatrischen Dienst seit November 2018 bekannt gewesen sei. Dieser habe bei ihm eine schizophrene Erkrankung und später auch eine Psychose festgestellt. Es habe allerdings zu keinem Zeitpunkt Hinweise darauf gegeben, dass Marco eine Gefahr für sich oder andere sein könnte – was Voraussetzung für Maßnahmen wie etwa die Einweisung in einer Klinik wäre. Demnach scheiterten auch mehrere Kontaktversuche daran, dass die Mitarbeiter*innen Marco nicht trafen, andere Male lehnte er demnach etwa Angebote der Wohnungslosenhilfe ab. Im Sommer soll Marco einer Betreuung durch einen gesetzlichen Vertreter zugestimmt haben. Dazu kam es jedoch nie.

Der letzte Kontaktversuch des Sozialpsychiatrischen Dienstes scheiterte demnach am 18. November 2020, also zwei Jahre nach dem ersten Hinweis, daran, dass die Mitarbeiter*innen ihn erneut nicht fanden. Rehfeldt betont, dass die personelle Ausstattung des Sozialpsychiatrischen Dienstes in diesem Fall keine Rolle gespielt habe, jedem Hinweis sei nachgegangen worden. „Es gab durchgängig das Spannungsfeld zwischen der Not der Anwohnerinnen und Anwohner, der sehr autonomen Lebensweise eines psychisch kranken Klienten und den nicht erfüllten Kriterien für Zwangsmaßnahmen. Andere Hilfen, die der Kooperation des Betroffenen bedurft hätten, scheiterten an seinem geringen Interesse, Teilhabe oder andere Hilfen in Anspruch zu nehmen, die Einrichtung der Betreuung schlicht daran, dass er nie gutachterlich gesehen werden konnte“, zitiert Rehfeldt eine zuständige Kollegin.

Marco war Tänzer, Musikproduzent, Skater, und in Neukölln auch als Sprayer bekannt. „Er war einfach ein Wahnsinniger“, sagte Max Thommes, „wenn Marco da war, dann war er gleichzeitig überall, im Überschall.“ Doch irgendwann war das offenbar zu viel – „er schien nicht mehr ganz da zu sein“, beschreibt Thommes. Marco wandte sich ab, die Stimmen in seinem Kopf seien immer lauter geworden, seine Gedanken verwirrender. Am Ende wurde aus Marco Markus, der durch den Schillerkiez geisterte, als schräger Typ, der manchmal laut, aber meist freundlich zu jedem war, um den sich viele kümmerten, der aber keine Hilfe wollte. Äddi, Marco, mach’s gut.