Nachbarschaft
Veröffentlicht am 17.10.2018 von Madlen Haarbach

Aleksej Tikhonov ist mit seinem Kollegen Roland Meyer an einem Forschungsprojekt beteiligt, das die historischen Handschriften böhmischer Flüchtlinge in Rixdorf erforscht. Ein Einblick in das Projekt:
Worin genau besteht Ihr Forschungsprojekt? Das Fraunhofer-Institut für Produktionsanlagen und Konstruktionstechnik (IPK) und das Fachgebiet der Westslawischen Sprachen (Humboldt-Universität) entwickeln gemeinsam ein Assistenzsystem zur Erschließung von historischen Handschriften, in das philologische und technologische Expertise eingehen. Die Rixdorfer Handschriften aus dem 18.-19. Jahrhundert dienen dabei als ein Laborfall. Die Aufgabe besteht darin, halbautomatisch Handschriften zu vergleichen, um sagen zu können, ob und mit welcher Wahrscheinlichkeit sie von den selben Schreiber*innen stammen. Das System soll sowohl rein visuelle als auch sprachliche Merkmale berücksichtigen. Deshalb arbeiten hier Informatiker und Sprachwissenschaftler zusammen. Gleichzeitig müssen die historischen Hintergründe der Handschriften aufgeklärt werden, um die halbautomatischen Analysen zu prüfen. Projektleiter sind Roland Meyer (HU) und Bertram Nickolay (IPK). Das Projekt findet in einer engen Zusammenarbeit mit der Rixdorfer Brüdergemeine und dem Archiv im Böhmischen Dorf statt, das in dem Projekt hauptsächlich durch den Archivar der Gemeine – Stefan Butt – vertreten wird.
Was ist das Interessante an der böhmischen Migration nach Rixdorf? Die Exulanten, also Glaubensflüchtlinge, waren vor allem einfache Menschen – Bauern und Handwerker, die aber trotzdem von hussitischer Tradition angehalten wurden, zumindest lesen zu lernen. Oft war der Erwerb des Lesens mit dem Erwerb von Schreibkompetenzen verbunden. Unter den Exulanten, die 1732/33 nach Berlin/Rixdorf kamen, war auch ein Lehrer: Martin Kopecký, der Tschechisch und Deutsch konnte. So konnten die Kinder weiter unterrichtet werden, was zu der Zeit in Preußen nicht selbstverständlich war. Da unsere Texte (insgesamt mehrere tausend Seiten) etwa zu einem Drittel aus den Lebensläufen dieser Flüchtlinge bestehen, ist es besonders interessant herauszufinden, ob die Bauern und Handwerker diese Texte selbst verfasst haben. Im Laufe der Zeit spiegeln die Texte auch die schrittweise Anpassung der Migranten an die Umgebung und den Einfluss des Deutschen bis hin zum völligen Verlust des Tschechischen.
Abgesehen davon sind es für das 18. Jahrhundert sprachliche Raritäten, weil es sich um protestantisches Schrifttum handelt. Sie könnten eine Rolle für die tschechische Sprachgeschichte spielen, denn selbst in der Tschechischen Republik gibt es aus dieser Zeit der rücksichtslosen Gegenreformation nur relativ wenige nicht-katholische Schriftstücke. Die Menschen sind nach Preußen von der Gegenreformation geflohen. In ihrer Heimat wurden ihre Glaubensansichten bestraft. Auch der Besitz von protestantischer religiöser Literatur stand unter Strafe.
Wie sah das Leben der Flüchtlinge in ihrem Neuköllner Exil aus? Zu dieser Zeit hieß Neukölln Rixdorf. Deutsch-Rixdorf existierte bereits seit dem Mittelalter. Böhmisch-Rixdorf wurde von den Exulanten in den 1730er Jahren neben dem deutschen Dorf gegründet. Zu dieser Zeit war es also ein Dorf bei Berlin. Viele von den Neuankömmlingen haben bald nach ihrer Ankunft Arbeit gesucht. Einige deutsche Unternehmer erkannten schnell das Potential der billigen Arbeitskräfte und stellten die Menschen für Unterkunft und Verpflegung ein. Im Laufe der ersten Jahre bekamen die Exulanten vom König auch Land und Baumaterialien zugewiesen und konnten so ihre Häuser und Kirchen bauen. Spätestens ab dem Ende der 1770er Jahre haben auch deutsche Kinder „böhmische“ Schulen besucht. Das heißt nicht, dass Deutsche Tschechisch gelernt haben, sondern dass im Unterricht schon zum größten Teil Deutsch gesprochen wurde. Die Schulen der Brüdergemeine (richtig ohne „d“) waren für deutsche Eltern ansprechend, weil sie sich nicht an die staatlichen Vorgaben halten mussten. Die Klassen in diesen Schulen waren kleiner und der Unterricht pädagogisch fortschrittlich, was auf den Begründer der Alten Brüdergemeine – Jan Amos Comenius – zurückgeht. Dies sind nur einzelne, vor allem positive, Details aus dem Leben der Exulanten.
Welche Spuren der Flüchtlinge finden sich heute noch in Neukölln? Sehr viele. Im Bezirkswappen ist z.B. der Abendmahlskelch zu sehen, das Symbol der Brüdergemeine und der gemäßigten Hussiten. Es sind noch einige historische Gebäude erhalten, die das Rixdorfer Museum, das die Geschichte der Exulanten erzählt, und den Comeniusgarten beherbergen. Auch die umliegenden Straßen sind nach den ersten Exulanten benannt, sowie nach dem Theologen Jan Hus oder nach den Orten, aus denen die Menschen kamen. Es gibt in Rixdorf tatsächlich Nachkommen der Exulanten, die zwar kein Tschechisch mehr können, doch immer noch tschechische Familiennamen tragen, die Geschichte ihrer Familien kennen und Kontakte zu den Herkunftsorten in Tschechien pflegen.
Was können wir aus den damaligen Migrationsprozessen für das heutige Neukölln lernen? Nach der Flucht in eine neuen Heimat brauchen Menschen eine Grundlage, auf der sie aufbauen können. So bekamen die protestantischen Exulanten im 18. Jahrhundert Boden und Baumaterial und sie waren fast 100 Jahre vom Militärdienst befreit. Der wirtschaftliche Faktor darf dabei nicht aus Acht gelassen werden. Das Land hatte nach Kriegen und Epidemien zu wenig Arbeitskräfte. Die offensive Außenpolitik Preußens setzte auf den ständigen Ausbau der Armee, die Kleidung und Ausrüstung brauchte. Viele der Exulanten waren Weber, manche von ihnen flohen weniger vor der religiösen Verfolgung, sondern suchten bessere Arbeitsbedingungen. Solche zogen meist weiter, z.B. nach Nowawes in Babelsberg. Interessant ist auch, wie sich die Exulanten gesellschaftlich voll adaptierten, aber auch ihre besondere religiöse Identität bis heute bewahrten. Dabei schotten sie sich keineswegs ab, sondern ihr Handeln ist von großer Toleranz und Menschenfreundlichkeit gekennzeichnet. Ihr enger Zusammenhalt führte zur Bewahrung der fast dörflichen Strukturen inmitten der Großstadt, die heute so sehenswert und historisch bedeutsam sind. Diese Integrationsgeschichte kann durchaus als Vorbild dienen.
Wie sind Sie auf die Idee mit der Lesereihe czEXILe gekommen und wie wurde diese angenommen? Im Projekt möchten wir unter anderem herausfinden, wer und wann genau diese Handschriften verfasst hat. Dafür entwickeln wir Methoden, die es erlauben, rund 5000 Seiten von Predigten und Lebensläufen in kürzester Zeit zu vergleichen und zu analysieren. Das sind überwiegend Methoden, die es nicht erlauben, die Inhalte der Texte zu erschließen, sondern visuelle und sprachliche Merkmale berücksichtigen. Um die Inhalte stärker in den Blick zu nehmen und auch einem interessierten Publikum nahezubringen, entwickelte Aleksej Tikhonov die czEXILe-Lesungen.
Mehr zur Lesereihe finden Sie hier: facebook.com/czexile.
Mehr über das Projekt lesen Sie in der Uni-Zeitung HUMBOLDT.
Foto: Elena Tikhonova
Wer einen Vorschlag hat, welcher Mensch hier unbedingt vorgestellt gehört: Gerne mailen an leute-m.haarbach@tagesspiegel.de.