Nachbarschaft

Veröffentlicht am 12.06.2019 von Thomas Wochnik

Von der Straße aus ist es klar mit bloßem Auge zu sehen: Ein Glashaus mit Glasgiebeldach auf dem Dach eines der Wohnhäuser. Gleich neben einem Mobilfunkmast. Nicht, dass es von sich aus auffiele – wenn man nicht weiß, wonach man suchen muss, kommt man sicherlich nicht drauf, dass es sich eigentlich um einen Parasiten handelt. Der Handyempfang dürfte ziemlich gut sein da oben, oder? Ist er nicht, erklärt Jakob Wirth, einer der beiden Erbauer und Bewohner des „Penthaus à la Parasit“. Guten Empfang hat man eher etwas weiter weg. Gleich erklimmt er fünf Etagen und dann noch eine Leiter, die in sein gegenwärtiges Heim führt. Mit Mitbewohner Alexander Zakharov (Künstlername) bewohnt er nun schon seit über zwei Wochen das 450 Kilogramm wiegende Konstrukt aus recyceltem Baustellenholz, Multiplex und Spiegelfolie. Das Haus ist ein Experiment: ein besetzendes Haus, es besetzt nämlich das Dach eines anderen Hauses, ohne Genehmigung und Wissen der Eigentümer.

Die beiden sind dem im Grunde nicht vorhandenen Wohnungsmarkt nicht nur symbolisch aufs Dach gestiegen, anstatt sich von den in immer neue Höhen steigenden Mietpreisen immer weiter in die Stadtperipherie drängen zu lassen. „Aneignung von oben“, nennen sie das: Man denke die Hausdächer der Stadt als bewohnbare Brachflächen, jede Nische als potenziellen Wohnraum.  Ganz gemäß der vorherrschenden Marktlogik, Stichwort Mikroapartments. Eigentlich dürfte sich niemand beschweren, wenn auch der normale Bürger bei dem Trend mitmacht.

Nach der zweiwöchigen Testphase gilt das Konstrukt als sturmerprobt und sicher – auch die letzten Blitz- und Donnernächte hat es überstanden. Kein Wunder, im Vorfeld haben die zwei Gespräche mit Architekten und Statikern geführt – das Gesamtgewicht inklusive Bewohnern liege unterhalb der Grenze, die so ein Dach auf die Fläche gerechnet an Schnee tragen kann, erklären sie. Außerdem liegen die Kontaktpunkte des Penthauses nicht an freischwebenden Teilen des Daches, sondern über Pfeilern und tragenden Wänden. Aber auch mit Juristen haben die beiden frühzeitig gesprochen. Nach der Beratung haben sie im Hausflur einen Briefkasten angebracht, der sie für eventuelle Eigentümer- oder Behördenpost erreichbar macht. Namen und Telefonnummern stehen an der Tür des Penthauses – allein für ein Foto stellen sich die beiden nicht zur Verfügung. „Dann würden wieder die Menschen im Vordergrund stehen, statt die Sache, um die es geht“, meint Jakob.

„Wir nutzen auch im juristischen Sinne eine Nische aus“, erklärt Alexander. „Man könnte ja gleich Hausfriedensbruch schreien, bei dem, was wir tun.“ Das Strafrecht greift allerdings nicht, so lange keine missachtete Mahnung vorliegt – sollte eine Mahnung kommen, könnten sie ab- und woanders wieder aufbauen. Und wieder bleiben, bis eine Mahnung kommt. Und so weiter – „in dieser Schwebe könnten wir uns theoretisch für immer bewegen.“ So persiflieren sie auch das Verhalten von Immobilienriesen, die etwas Ähnliches mit größter Selbstverständlichkeit tun, indem sie Briefkastenfirmen in Luxemburg oder Zossen gründen und immer dann, wenn etwas geschieht, diese Tochterfirmen pleite laufen lassen, ohne dem großen Konzern dahinter zu schaden. Nur um gleich darauf unter anderem Namen wieder aufzutauchen. Der Gesetzgeber ermöglicht das. Und Banken erwarten diese Distanzierung der Unternehmen mitunter sogar, es ist übliche Praxis. „Außerdem steht da der Artikel 5 GG (u.a. künstlerische Freiheit) dem Recht auf Eigentum gegenüber. Und darauf berufen wir uns.“

Selbstverständlich soll das Vorgehen keine Lösung für das Wohnraumproblem der Stadt darstellen. Es soll aber die Logik des Marktes vorführen und eine Anregung sein, über das Parasitäre nachzudenken.

Der genaue Standort des Hauses ist nicht öffentlich bekannt, hinein kommt man nur mit Einladung – es solle auch nicht um den Ort gehen, sondern um den Standort Neukölln oder Berlin. „Das hat auch mit der Sicherheit zu tun, die wir zu verantworten hätten, wenn hier Menschen ein und ausgehen könnten“, erklärt Alexander. „Einzelpersonen und kleine Gruppen, die wir direkt sprechen und detailliert anweisen können, sind aber nach Absprache willkommen.“

Ganz ohne ist das Wohnen hier übrigens nicht. Der Raum ist naturgemäß eng, Wasser kommt aus einem Plastikspeicher – aber nur, wenn man den regelmäßig auffüllt. Schwindelfrei sollte man auch weitgehend sein. Seit Kurzem gibt es mit der neuen Komposttoilette ein wenig Bequemlichkeit – mit Holzdeckel und liebevoll eingeschnitztem Herz. Dank der Spiegelfolie heizt sich der Innenraum nicht annähernd so stark auf wie der Dachboden darunter. Und es gibt den Weitblick. Und Gefahren. Jakob ist am Bein verletzt, eine Blutspur ziert die Wade. Keine Ahnung woher das kommt, ist auch egal.

In der nächsten Phase dürfen sich Interessent*innen, die das Penthaus auf Zeit bewohnen wollen, bewerben, um „das (prekäre) Privileg des Oben-Seins“ zu erleben. Die Unterlagen werden geprüft, Besichtigungstermine vereinbart. Hinweise für geeignete zukünftige Standorte, gern auch interessierter Eigentümer*innen, werden gern angenommen über E-Mail an penthaus_a_la_parasit@posteo.de oder facebook.com/prekaerespenthaus – Autor: Thomas Wochnik

Wer einen Vorschlag hat, welcher Mensch hier unbedingt vorgestellt gehört: Gerne mailen an leute-m.haarbach@tagesspiegel.de.

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Diesen Text haben wir als Leseprobe dem neuen Tagesspiegel-Newsletter für Berlin-Neukölln entnommen. Den kompletten Neukölln-Newsletter, den wir Ihnen einmal pro Woche schicken, können Sie ganz unkompliziert und kostenlos bestellen unter leute.tagesspiegel.de.