Nachbarschaft

Veröffentlicht am 16.10.2019 von Maria Kotsev

Matthias Müller arbeitet seit 2004 in der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin (MBR), seit 2007 hat er sich auf Neukölln spezialisiert. Er verfolgt berlinweit Debatten über Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus, sowie den Themenkomplex Neue Rechte. Seine Erkenntnisse, „Good Practices“ und neue Strategien im Umgang mit Rechten gibt er in Workshops und Beratungen an zivilgesellschaftliche Akteure, Parteien, die Verwaltung und Unternehmen in Neukölln weiter.

Herr Müller, was hat Sie dazu bewegt, sich beruflich mit Rechtsextremismus zu beschäftigen? Vieles hat mich geprägt. Zum einen war das die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und die Frage, wie solche Verbrechen möglich wurden und weshalb so wenige Menschen Widerstand leisteten. Als junger Mensch machte ich nach 1989 selbst Erfahrungen mit dem Neonazismus in den neuen Bundesländern. Die Angriffe auf Geflüchtete in vielen Städten, nicht nur im Osten, also Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, Mölln oder Solingen prägten mich dabei. Zudem hat mich schon immer interessiert: In was für einer Gesellschaft wollen wir leben? Oder der Anspruch an eine Gesellschaft, in der möglichst jede und jeder „ohne Angst verschieden sein kann“ wie das Adorno formulierte. Jedenfalls kam ich dann über den Zivildienst dazu, Soziale Arbeit zu studieren, machte viel politische Bildungsarbeit und habe 2004 bei der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus (MBR) angefangen.

Wie kam es, dass Sie sich auf Neukölln spezialisiert haben? Das hat sich so ergeben und der Bezirk hat mich schon damals interessiert. Die MBR hat in ihren ersten Jahren ab 2001 verstärkt in den Ost-Berliner Bezirken beraten, weil wir über ein Bundesprogramm für die neuen Länder gefördert wurden. Dann wurde deutlich, dass sich Neonazis verstärkt im Süden Neuköllns organisieren und dort aus rechten jungen Leuten organisierte Rechtsextreme wurden. Auch mit Hilfe der NPD organisierten sie in Südneukölln Aufmärsche und Fußballturniere, die Propagandadelikte und Gewalttaten häuften sich. Das war schon um die Jahre 2003 bis 2005 spürbar; antifaschistische Recherchen berichteten schon damals darüber. Im Jahr 2006 gründeten engagierte Menschen aus der Zivilgesellschaft in Rudow das Aktionsbündnis Rudow, das die MBR bei der Gründung und die folgenden zehn Jahre über begleitet hat. Seit 2007 berät die MBR in ganz Berlin.

Was unterscheidet Neukölln strukturell von anderen Berliner Bezirken und führt dadurch dazu, dass sich rechte Straftaten im Bezirk besonders häufen? Dafür sollte man einen Blick zurück in die achtziger Jahre werfen. Engagierte Menschen berichteten mir, dass schon damals Neonazi-Gruppierungen in Neukölln aktiv waren. Vor allem im Fußball und unter den Hooligans war das spürbar. Außerdem wurden die rechtsextremen Republikaner in Neukölln überdurchschnittlich gewählt. Die Älteren werden sich bestimmt erinnern: In den neunziger Jahren hatte Neukölln sogar einen Republikaner-Stadtrat. Es gab also schon damals ein Potenzial, rechts vom Konservatismus zu wählen. In den Zweitausendern verschärfte sich die Situation, als rechtsextreme Kader im Süden des Bezirks verstärkt junge, rechtsextrem orientierte Menschen an sich banden und sich diese weiter radikalisierten. Die rechtsextreme Szene hatte häufig genutzte Treffpunkte, wo sie ihre weiteren Aktionen besprach. Dabei wurde eng mit der NPD zusammengearbeitet. Diese Entwicklungen gab es in den anderen Westbezirken nicht. Neukölln hat im berlinweiten Vergleich spätestens seit den Zweitausendern ein deutliches Rechtsextremismus-Problem, was sich weniger im politischen Einfluss als im hohen Bedrohungs- und Gewaltpotential dieser Szene zeigt.

Hat sich die Qualität der rechten Gewalt in Neukölln in den letzten Jahren verändert? Man kann die rechtsextremen Angriffe in Neukölln in zwei Angriffsserien unterteilen. Die erste ist ungefähr in den Jahren 2009 bis 2012 zu verorten. Ziel rechtsextremer Anschläge wurden zu dieser Zeit politische und kulturelle Einrichtungen, Parteien und Jugendzentren, die sich gegen Rechtsextremismus engagierten. Berliner Rechtsextreme veröffentlichten damals im Internet Namen, Fotos und teilweise sogar die Adressen politischer Gegner*innen und deren Einrichtungen auf einer so genannten „Anti-Antifa“-Liste. Unter der Bezeichnung „Nationaler Widerstand“ riefen die Rechtsextremen zu Angriffen gegen Personen auf der Liste auf. Es gab damals eine Vielzahl von Brandanschlägen. Zwei Mal traf es die Jugendeinrichtung der Falken in Britz, das Anton-Schmaus-Haus, nachdem es auf der Liste als mögliches Anschlagsziel genannt worden war.

Und die zweite Anschlagsserie? Da trifft es seit dem Jahr 2016 es vor allem Einzelpersonen. Es gab Brandanschläge auf PKWs und Häuser, Engagierte wurden mit Schmierereien und Graffitis in ihren Hausfluren öffentlich bedroht, teilweise gab es Morddrohungen. Beim Brandanschlag auf das Szenecafé K-Fetisch in der Wildenbruchstraße wurde bewusst der Tod von Menschen in Kauf genommen. Wenn das Feuer eingedrungen wäre, hätte das Wohnhaus brennen können. So planvoll wie in Neukölln erlebt man rechtsextreme Straftaten derzeit nirgends sonst in Berlin.

Wie konnten sich diese Strukturen im Bezirk ungehindert etablieren? Das Problem des Rechtsextremismus wurde im Süden Neuköllns zu spät angegangen. Als sich 2006 das Aktionsbündnis Rudow gründete, hatte es schon mehrere rechtsextreme Attacken auf Engagierte und zivilgesellschaftliche Akteure gegeben. Die Szene hatte über einen langen Zeitraum gute Bedingungen, sich zu entfalten und junge Leute an sich zu binden. Politik und Verwaltung haben erst reagiert, als das Problem schon offensichtlich war. Mittlerweile wurden viele Initiativen gegründet, etwa in Britz. Mit dem Bündnis Neukölln gibt es eine bezirksweite Vernetzung. Zudem ist die Sensibilität für Rechtsextremismus und rechte Strukturen im Bezirk gestiegen. In den letzten Jahren hat sich die Zivilgesellschaft viel Know-How angeeignet und Erfahrungen in der Auseinandersetzung mit der rechtsextremen Szene gemacht. Ich möchte hier besonders das Festival ‚Offenes Neukölln‘ nennen.

Wie bewerten Sie die ausbleibenden Ermittlungserfolge der Berliner Polizei und des Landeskriminalamts in der zweiten Anschlagsserie in Neukölln?
Aus unserer Sicht ist eine Einschätzung erstmal schwierig, da die Behörden nur einen Teil ihrer Arbeit öffentlich machen. Dennoch ist es für viele Engagierte und auch für uns unverständlich, weshalb die Ermittlungen noch zu keinem Erfolg geführt haben. Wir sprechen hier wirklich von einem kleinen Kreis an Tatverdächtigen. Bei zwei davon wurden im vergangenen Jahr bereits Hausdurchsuchungen durchgeführt. Warum es da noch keine Ergebnisse gibt, verwundert viele. Für Betroffene und Engagierte ist das ein unerträglicher Zustand, zumal sich in jüngster Zeit Berichte über rechtsextreme Vorkommnisse bei der Polizei häufen. Es gibt Personen, die mehrmals von Anschlägen getroffen wurden. Und sie befürchten, dass es sie wieder treffen könnte. Das darf in einer demokratischen Gesellschaft nicht sein.

Natürlich sagen viele auch ‚jetzt erst recht‘. Es ist unser Anspruch als Beratung gegen Rechtsextremismus, die Menschen zum Handeln zu ermutigen. Aber wir sprechen hier auch von engagierten Menschen mit Familie und Kindern. Wenn man da mit den Fenstern zur Straße wohnt und keine Möglichkeit hat, seine Fenster gegen Steinwürfe und Brandsätze zu sichern, ist es nachvollziehbar, dass man verunsichert ist und sein eigenes Engagement überdenkt.

Seit dem rechtsextrem und antisemitisch motivierten Terroranschlag in Halle ist die Gamerszene zunehmend in die Diskussion geraten. Der Täter Stephan Balliet soll sich darüber radikalisiert haben. Sollte Präventionsarbeit gegen Rechtsextremismus und Antisemitismus Onlineforen und Games stärker in den Fokus nehmen? Der Täter von Halle radikalisierte sich zwar nicht innerhalb rechtsextremer Gruppierungen – jedenfalls nach den derzeitigen Erkenntnissen. In seinem ‚Manifest‘ finden sich jedoch dieselben antisemitischen Chiffren und Verschwörungsmythen dieses politischen Milieus wieder. Das Internet dient dabei als Multiplikator und Beschleuniger bei der Radikalisierung. Personen wie der Täter aus Halle finden in Foren und Plattformen die Bestätigung für ihre menschenverachtenden Positionen. Dennoch: Sei es in der Kita, der Schule, dem Sportverein, der Jugendclique, im Elternhaus – viele Sozialisationsinstanzen sind aufgefordert, antisemitischen Erklärungen zu widersprechen. Und wie ein TV-Beitrag zeigt, teilt die Mutter des Täters einige solcher Aussagen.

Wie kann man da präventiv gegensteuern? Der Fokus bei der Prävention sollte nicht ausschließlich auf dem Internet liegen. Natürlich ist es wichtig, Jugendlichen, Eltern und pädagogischen Fachkräften Medienkompetenz und einen kritischen Umgang mit sozialen Medien zu vermitteln. Aber die Geschichte des Antisemitismus ist über 2000 Jahre alt. Man muss jungen Menschen die Geschichte des Rassismus und des Antisemitismus lehren und auf eine kritische politische Bildung setzen – damit sie sowohl im echten Leben, als auch im Netz rassistischen Beleidigungen, Antisemitismus und Frauenhass widersprechen.

Foto: privat

Wer einen Vorschlag hat, welcher Mensch hier unbedingt vorgestellt gehört: Gerne mailen an leute-m.haarbach@tagesspiegel.de.