Nachbarschaft
Veröffentlicht am 23.10.2019 von Maria Kotsev

Jana Friedrich ist freiberufliche Hebamme in Berlin. Ihre Ausbildung machte sie von 1995-1998 in der Hebammenschule in Berlin-Neukölln im Mariendorfer Weg 28-38 (hier eine Draufsicht als Foto) und arbeitete dort nach der Geburt ihres Kindes weitere zwei Jahre in der Geburtsklinik.
Friedrich lernte den Hebammenberuf in einer der renommiertesten Schulen in Deutschland, zumindest galt die Frauenklinik und Hebammenschule Neukölln lange als diese. Am 1. Juli 1917 wurde sie nach drei Jahren Bau als „Landesfrauenklinik & Hebammenlehranstalt der Provinz Brandenburg“ eröffnet – ein Geschenk zum 25-jährigen Regierungsjubiläum des Königs Wilhelm II. von Preußen. Denn zu Beginn des letzten Jahrhunderts war die Mütter- und Säuglingssterblichkeit in Deutschland mit rund 15 Prozent enorm hoch, die meisten Mütter bekamen ihre Kinder zu Hause, nur rund drei Prozent der Geburten fanden in Kliniken statt. Zudem herrschten speziell im Arbeiterbezirk Rixdorf schlechte hygienische Verhältnisse, viele Menschen litten unter Mangelernährung. Also musste eine moderne Klinik samt Ausbildungsstätte her. Die Planung am Mariendorfer Weg begann.
Ob Jana Friedrich etwas wehmütig wird bei dem Gedanken, dass das Gelände jetzt vollständig umgestaltet wird, Gebäude abgerissen wurden und Wohnkomplexe errichtet werden? Sie lacht: „Nicht wirklich. Ich habe mich schon von dem Ort verabschiedet. Dass die Altbauten mit den schönen Reliefs so lange verfallen konnten, fand ich aber schon schade!“ Der Klinikbau wurde damals nach Entwürfen des Stadtplaners Theodor Goecke errichtet. Den Eingang des vierstöckigen Gebäudes zwischen Mariendorfer Weg und Eschersheimer Straße, damals als Verwaltungsgebäude genutzt und noch heute erhalten, ziert ein Rundbogen. Oberhalb, in kleinen, quadratischen Nischen, wurden freskenartige Abbildungen von Hebammen an der Fassade angebracht.
Das Haus überlebte ein turbulentes Jahrhundert. In den zehn Jahren nach der Gründung der Hebammenschule wurden etwa 500 Schülerinnen zu Hebammen ausgebildet. Die Klinik verfügte damals über 130 Betten, jährlich fanden rund 700 Entbindungen statt. Der erste Chefarzt Prof. Dr. Hammerschlag war ein großer Unterstützer der Hebammenausbildung. 1933 wurde er als Jude jedoch von diesem Posten vertrieben. Sein Nachfolger Prof. Dr. Ottow führte im Namen der nationalsozialistischen „Erbhygiene“ Massensterilisierungen durch. Während des Zweiten Weltkriegs wurde das Gebäude stark beschädigt und konnte erst Mitte der fünfziger Jahre wiedereröffnet werden. In den folgenden Jahrzehnten entwickelte sich die Klinik unter den Klinikchefs Dr. Jung und Dr. Saling mit einem ganzheitlichen Mutter-Kind-Ansatz zum Vorreiter in der Geburtsmedizin. Besonders letzterer sah als einer der ersten in der Geburtsmedizin im ungeborenen Kind einen eigenständigen Menschen.
Auf ihre Jahre in der Ausbildung blickt Jana Friedrich zwiegespalten zurück. Einerseits wurden die Hebammenschülerinnen am Mariendorfer Weg gut ausgebildet. „Man hat uns fit gemacht. Anschließend hat mich nicht viel mehr überrascht“, sagt sie. Neben dem Unterricht waren Dienste im Kreissaal Pflicht. Dort ging es ziemlich hierarchisch zu: „Als Schülerin war man das kleinste Licht und hat schon viel abbekommen“, erinnert sie sich. Vier examinierte Hebammen arbeiteten dort pro Schicht, gleichzeitig waren mindestens zwei Ärzte und oftmals auch der Klinikchef im Kreissaalbereich im Einsatz. Der Kreissaal in der Frauenklinik Neukölln war mit seinen sieben Teilsälen, die um eine runde Kanzel herum angeordnet waren, lange der größte Deutschlands. Aus dem Geburtensaal führte eine Schleuse zum Operationsraum, wo Neugeborene und Mütter bei Komplikationen operiert wurden. „In dieser Schleuse haben wir früher viele Tränen gelassen“, berichtet Friedrich. Dort fielen Belastung, Stress und Anspannung nach komplizierten oder tragischen Geburten von den Hebammenschülerinnen ab.
In Friedrichs Zeit am Mariendorfer Weg beobachtete sie auch, wie die Verhältnisse im Kreissaal frauenfreundlicher wurden. Unter dem damaligen Klinikchef Prof. Vetter wurden erstmals richtige Türen zu den Kreissälen angeschafft, die den gebärenden Frauen mehr Privatsphäre verschafften. Die Bedürfnisse der Frauen wurden stärker in den Fokus genommen und im Zuge ihrer Laufbahn hatten die Hebammen immer stärker die Möglichkeit, Dinge anders zu machen: „Wir haben die Frauen während der Wehen auch mal aus dem Bett geholt und sind mit ihnen ein paar Meter gelaufen“, berichtet Friedrich. Und doch sieht sie die Entwicklung hin zu einem ganzheitlichen Ansatz in der Geburtshilfe aus feministischer Perspektive kritisch: „Dadurch, dass das Kind stärker in den Fokus rückt, wird die Frau weniger gesehen.“ Dennoch sei die Frauenklinik Neukölln aus medizinischer Sicht sehr innovativ gewesen, was ihr bis in die achtziger Jahre die Vorreiterstellung in der Geburtshilfe einbrachte.
Wer mehr über Geburtshilfe aus der Perspektive von Hebammen erfahren will: Jana Friedrich bloggt auf hebammenblog.de über ihren Beruf, Schwangerschaft und Geburt. – Text: Maria Kotsev, Foto: privat
- Mein Lesetipp: Auf dem Gelände der ehemaligen Frauenklinik enstehen heute 800 Wohnungen. Was dort genau geplant und gebaut wird, habe ich Ihnen im neuen Tagesspiegel-Newsletter für Berlin-Neukölln aufgeschrieben.
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Diesen Text haben wir als Leseprobe dem neuen Tagesspiegel-Newsletter für Berlin-Neukölln entnommen. Den – kompletten – Neukölln-Newsletter gibt es wöchentlich ganz unkompliziert und kostenlos hier leute.tagesspiegel.de.
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Weitere Themen aus dem Neukölln-Newsletter: +++ Zwischen Mietendeckel und Gentrifizierung: Neues Wohnquartier am Mariendorfer Weg fast fertig +++ Die Geschichte der ehemaligen Frauenklinik Neukölln +++ Kontroverse um Rodungen am Weigandufer +++ Streit um Sprechverbot an der Zürich-Grundschule +++ Großrazzia gegen Clankriminalität +++ Geht Hipsterisierung ohne Gentrifizierung? Ein Beispiel vom Richardplatz +++ Den kompletten Neukölln-Newsletter vom Tagesspiegel gibt es wöchentlich ganz unkompliziert und kostenlos hier leute.tagesspiegel.de.
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Wer einen Vorschlag hat, welcher Mensch hier unbedingt vorgestellt gehört: Gerne mailen an leute-m.haarbach@tagesspiegel.de.