Nachbarschaft

Veröffentlicht am 05.02.2020 von Madlen Haarbach

Vergangenen Freitag wurde das Team des Mädchen*Stadtteilladens „ReachIna“ vom Träger Outreach in der Nansenstraße 35 mit dem Hatun-Sürücü-Preis ausgezeichnet. Der Preis wird jährlich von der Grünen-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus an Einzelpersonen oder Organisationen vergeben, die sich für das Recht von Mädchen* und jungen Frauen* auf Chancengleichheit und Selbstbestimmung einsetzen und sie auf dem Weg dorthin begleiten und fördern. Im Interview spricht Kathi Schilling (im Bild ganz links) vom ReachIna-Team über die Arbeit mit Mädchen* im Kiez – mit dem Sternchen sollen auch Jugendliche angesprochen werden, die sich nicht eindeutig dem weiblichen Geschlecht zuordnen.

Wie ist das ReachIna entstanden? Das ReachIna gibt es seit dem Jahr 2000. Das Interessante ist eigentlich, dass damals Mädchen* das selbst eingefordert haben. Sie haben gesagt, sie können Jugendclubs nicht besuchen, weil zum Beispiel ihre Cousins ihnen den Raum dort klauen und sie sich dort unterdrückt fühlen. Dann gab es diesen winzig kleinen Mädchen*Stadtteilladen im Reuterkiez, in dem wir auch immer noch sind. Das ist eine Freizeiteinrichtung für jugendliche Mädchen* und Transjugendliche.

Worin genau besteht eure Arbeit? Wir bieten niedrigschwellige Angebote an: Das geht von Freizeitangeboten, von politischer und kultureller Bildung über Lernhilfe bis zu Sportangeboten. Wir veranstalten auch Fußballtrainings auf Bolzplätzen. Seit zwei Jahren machen wir vermehrt erlebnispädagogische Angebote, weil wir gemerkt haben, dass es einen großen Unterschied macht, wenn die Mädchen* und jungen Frauen* nicht in ihrer gewohnten Umgebung sind, sondern mal außerhalb von Berlin. Dann können die sich anders verhalten und fühlen sich viel freier. Man kann Sachen anders thematisieren, wenn man auf so einer Fahrt ist.

Was für Fahrten macht ihr? Zum Beispiel mehrtägige Fahrradtouren an die Ostsee oder nach Prag. Auf ihnen spüren die Mädchen* auch ihre Selbstwirksamkeit. Beim Fahrradfahren merken sie, dass sie was schaffen. Bei den Fahrten waren das großteils Mädchen*, die gar nicht so sportlich sind, die aber diese Herausforderung trotzdem gut geschafft haben. Durch diese Fahrten schaffen wir auch noch einmal ein ganz anderes Vertrauensverhältnis zu den Mädchen*. Darauf können wir im Alltag aufbauen.

Was für Mädchen* kommen zu euch? Viele besuchen die Einrichtung jeden Tag. Einige kommen seit zehn Jahren, sie haben wir als Peer-Helperinnen mit eingebunden. Wir versuchen, sie weiter zu begleiten, aber in die Arbeit einzubinden. Speziell am ReachIna ist, dass es von sehr diversen Gruppen von Mädchen* besucht wird. Auffallend ist, dass Mädchen*, die sich sonst als Außenseiterinnen fühlen, eigentlich immer im Laden angebunden bleiben. Also Mädchen*, die schwer Anschluss bei anderen Jugendclubs finden. Diese sind oft männlich dominiert. Die Mädchen* fühlen sich da oft nicht wohl. Man merkt, dass sie bei uns einen Ort haben, der geschützt ist und an dem sie sich frei verhalten können, nicht denken, sie werden bewertet von Jungs.

Wie ist die familiäre Situation der Mädchen*, die zu euch kommen? Unabhängig von ihrem kulturellen Hintergrund haben die Mädchen* in der Familie oft Probleme, dürfen manche Sachen nicht machen. Es gibt Mädchen*, die zu uns kommen, die sich nicht weiter als fünf Straßen von ihrer Wohnung entfernen dürfen. Wichtig finde ich zu betonen, dass das nicht nur mit dem kulturellen Background zusammenhängt. Patriarchale Strukturen gibt es überall. Man merkt das stark: Wenn wir zum Beispiel am Abend Aktivitäten machen, dürfen viele nicht mitmachen.

Wie geht ihr mit sowas um? Wir versuchen, unsere Arbeit transparent zu machen und mit den Eltern zu reden. Wir versuchen, den Eltern zu erklären, warum es wichtig wäre, dass die Mädchen* mitkommen dürfen. Damit kann man schon relativ viel erreichen. Und auch, indem wir die Mädchen* darin bestärken, dass sie ihre Bedürfnisse bei ihrer Familie einfordern. Manchmal begleiten wir Mädchen* auch bei ihrem Weg, unabhängig zu werden, bei der Familie auszuziehen.

Habt ihr auch schon mal Probleme mit Familien deswegen gehabt? Ja. Es passiert relativ regelmäßig, dass Eltern mitkriegen, dass wir Mädchen* darin unterstützen, das zu machen, was sie wollen – auch wenn sie zum Beispiel ausziehen wollen. Dann dürfen die oft eine Zeit lang nicht kommen oder es dauert lange, bis man wieder Vertrauen aufbaut und sie wieder kommen dürfen. Es passiert auch, dass Mädchen* ganz wegbleiben.

Habt ihr dann eine Möglichkeit, die Mädchen* weiter zu erreichen? Wir machen auch mobile Jugendarbeit, das heißt, wir sind im Kiez unterwegs. Da trifft man auch immer wieder welche an und kann mit ihnen außerhalb von unseren Angeboten was ausmachen. Wir versuchen, Kontakt zu halten, auch über soziale Medien.

Hast du den Eindruck, dass sich in den letzten Jahren – auch nach der Ermordung von Hatun Sürücü – bei den Mädchen* etwas verändert hat? Ich habe das Gefühl, dass die Grundbedarfe noch dieselben sind. Es geht oft darum, sich den öffentlichen Raum zurück zu erkämpfen. Auf den Sportplätzen in Neukölln sind zum Beispiel nur Jungs. Da denke ich immer noch: Okay, seit der Zeit ist nichts passiert. Andererseits sehe ich, dass die jüngeren Mädchen* ihre Bedürfnisse anders einfordern. Viele, die zu uns kommen, kommen von der Rütlischule. Da wird richtig gute Arbeit gemacht. Und man merkt, dass die Mädchen* mittlerweile besser kommunizieren können, was sie brauchen. Generell hat sich speziell hier der Kiez durch die Gentrifizierung krass verändert und ist diverser geworden. Deswegen sind jedoch viele Mädchen* und ihre Familien von Verdrängung betroffen. Es gibt immer noch Mädchen*, die nicht viel dürfen, die in den Familienstrukturen gefangen sind und wo es noch einen langen Weg gibt, die zu unterstützen. Die vielleicht auch gar nicht bei uns ankommen.

Was würdest du dir für eine bessere Unterstützung der Mädchen* wünschen, auch unabhängig von eurer Arbeit? Was wir oft merken: Viele Mädchen* und junge Frauen* wollen von Zuhause raus. Sie kommen zu uns, aber die Strukturen fehlen. Es gibt keine Wohnung, in die sie schnell können. Sie müssten in eine Obdachloseneinrichtung, das wollen sie aber nicht. Es gibt auch Einrichtungen wie Papatya (eine anonyme Kriseneinrichtung für Mädchen* und junge Frauen mit Migrationshintergrund, Anm. d. Red.), aber die haben auch zu wenig Plätze. Es fehlt an finanzieller Unterstützung und auch an besseren Strukturen für Mädchen*, die ausbrechen wollen. Ich glaube, das wäre die größte Hilfe, die man ihnen geben kann. Oft kommen sie wo an, kriegen Hilfe. Aber dann scheitert es daran, dass sie nicht untergebracht werden können. Dann gehen sie zurück. Auch bei uns sind die Strukturen schlecht. Die Mädchen*arbeit ist einfach unterfinanziert. Es wird viel erwartet, aber oft wenig gegeben. Wir haben zwei halbe Stellen. Zwei halbe Stellen für alle Bedürfnisse, die die Mädchen* haben, sind halt einfach zu wenig. Und das geht allen Mädchen*- und Jugendeinrichtungen so. – Text: Madlen Haarbach 

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