Nachbarschaft

Veröffentlicht am 29.04.2020 von Nina Dworschak

Kazim Erdogan ist Vorsitzender des Vereins „Aufbruch Neukölln“, der verschiedene Bevölkerungsgruppen durch Hilfsangebote zusammen bringt. Bekannt wurde er vor 13 Jahren, als er die erste türkische Väter- und Männergruppe gründete. Mittlerweile gibt es berlinweit fünf dieser internationalen Männergruppen, aber auch Gruppen für Frauen und Spielsüchtige-Männer. Im Gespräch berichtet er über seine Beratertätigkeit während der Pandemie und darüber, was er vom Fasten im Ramadan hält.

Herr Erdogan, welche Auswirkung hat Corona auf Ihren Verein? Wir machen derzeit nur Online- und Telefonberatung für Menschen, die Gesprächsbedarf haben. Vor allem für unsere türkische Vätergruppe ist es ein herber Verlust. Sonst kommen wir dort jeden Montag mit fast 30 Männern ins Gespräch, arbeiten an gemeinsamen Projekten.

Haben Sie versucht, die Gruppe in den virtuellen Raum zu verlegen? Haben wir, aber nicht alle Teilnehmer können mit dem Internet umgehen oder haben die Möglichkeit. Wir haben Whats-App-Gruppen, da finden wir gerade zueinander. Allerdings ist das nur die Hälfte der Teilnehmer. Die anderen versuchen wir telefonisch zu erreichen. Es vergeht kaum ein Tag, an dem mich nicht mindestens fünf Anrufe erreichen.

Mit welchem Anliegen kommen die Leute derzeit zu Ihnen? Probleme gibt es vor allem in der innerfamiliären Kommunikation, da diese aktuell im Vordergrund steht. Gerade wenn Familien aus Armutsverhältnissen kommen, kleine Kinder oder kleine Wohnungen haben, kommt es öfters zu Streit. Da versuchen wir, den Wind aus den Segeln zu nehmen. Ein weiterer Grund für Frust ist auch, dass man derzeit nicht in die Türkei fliegen kann, dass man jetzt hier gefesselt ist.

Ist es für viele Muslime, die Sie kennen, eine Belastung, die türkische Familie nicht sehen zu können? Vor allem jetzt im Fastenmonat Ramadan? Viele wollten hauptsächlich zum Ramazan-Fest (Anm. d. Red.: Fest des Fastenbrechens am Ende des Ramadan) Ende Mai in die Türkei fliegen und mit Verwandten feiern. Für sie ist es ein großes Problem, das nicht mehr machen zu können. Wir versuchen auf der anderen Seite die Menschen davon zu überzeugen, dass sie im Ramadan dieses Mal nicht fasten sollen. Wenn das Immunsystem geschwächt ist, weil man 23 Stunden nicht mehr isst und trinkt, dann wird der Körper schwach. Wenn man sich dann mit Corona ansteckt, kann das schlimme Folgen haben. Die Menschen davon zu überzeugen,  ist nicht einfach.

Was bedeutet der Ramadan genau? Man steht vor Sonnenaufgang, um 4 Uhr, auf und isst etwas. Dann wird bis Sonnenuntergang gefastet. Kinder und chronisch Kranke sollen nicht fasten. Allerdings fasten viele Menschen, die alt und schwach sind, aus Glaubensgründen. Gerade in der jetzigen Pandemie-Situation denken sie, die Krankheit findet mich so nicht oder ich werde geheilt, wenn ich faste. Dieser Gedanke macht mir Sorgen.

Wie gehen die Moscheen im Bezirk damit um? Bisher habe ich noch keine Stellungnahme von den Moscheen in Neukölln bekommen. Ich hatte gehofft, dass sie mit der gleichen Nachricht wie wir an die Öffentlichkeit gehen, also dass dieses Jahr auf das Fasten verzichtet werden soll. Im Koran steht, wenn man verhindert ist, soll man das Fasten bleiben lassen. Ich hab gehofft, dass auch die türkischen Behörden sagen würden, dass man wegen des Virus nicht fasten soll.

Wie ist es für die Menschen der muslimischen Gemeinde in Neukölln, dass sie derzeit nicht in ein Gotteshaus gehen können? Natürlich ist es eine Belastung. Uns belastet es, wenn wir unsere Freunde nicht besuchen können, so ist es eben auch mit den Moschee-Besuchen. Viele gehen jeden Tag zum gemeinsamen Beten dort hin, aber auch das Freitagsgebet und die anschließende Kommunikation fehlen.

Gab es auch Fälle, bei denen Sie nicht mehr weiter wussten? Natürlich gibt es derzeit Fälle von physischer und verbaler Gewalt. Ich hatte Leute, die mir sagten, sie werden langsam verrückt. Ich rate ihnen immer: Geht raus, macht einen Spaziergang, regt euch ab. Verzweifelt war ich aber nie. Ich muss immer hellwach sein und vom Positiven ausgehen. Das versuche ich den Menschen zu vermitteln, nicht nur in der Corona-Zeit.

Was ist Ihre Botschaft an Ihre Nachbar*innen? Wir machen diese Erfahrung alle zum ersten Mal in unserem Leben. Es ist eine Chance über unser bisheriges Handeln nachzudenken. Ab und zu bremsen Einschränkungen das Leben, da sollten wir nicht nur an uns selbst, sondern auch an unsere Mitmenschen denken. Das Wir-Gefühl gehört jetzt in den Vordergrund.

Wer einen Vorschlag hat, welcher Mensch hier unbedingt vorgestellt gehört: Gerne mailen an leute-m.haarbach@tagesspiegel.de.