Nachbarschaft

Veröffentlicht am 30.09.2020 von Madlen Haarbach

Isabell Merkle ist Neuköllnerin und Teil der Initiative „Parkplatz Transform„. Die Initiative hat im Juni die Parkplätze im Schillerkiez und rund um die Hermannstraße gezählt – und kam zu dem Ergebnis, dass dort 2589 Parkplätze insgesamt 32.363 Quadratmeter öffentliches Land belegen. Zum Vergleich: Der Kleinkindspielplatz an der Schillerpromenade kommt auf 756 Quadratmeter. Insgesamt nehmen Spielplätze nach der Rechnung der Initiative 1,2 Prozent der Fläche im Schillerkiez ein, Grünflächen 1,5 Prozent – und Straßen 28 Prozent der Fläche. Im – schriftlich geführten – Interview spricht Merkle über ihre Forderung nach mehr Flächengerechtigkeit.

Eure Zählung hat ergeben, dass im Schillerkiez und rund um die Hermannstraße geparkte Autos 43-mal so viel Platz einnehmen wie der Kleinkindspielplatz an der Schillerpromenade. Was schlussfolgert ihr daraus? Parkenden Autos wird im Schillerkiez und in Berlin insgesamt viel zu viel Platz eingeräumt. Damit setzen wir völlig falsche Prioritäten, denn der öffentliche Raum sollte für Menschen da sein.

Wie ist die Idee, Parkplätze zu zählen, entstanden? Wir wollten die Zahl der öffentlichen Parkplätze in Berlin recherchieren und haben dann festgestellt, dass die Stadt gar nicht weiß, wie viel öffentlicher Raum an parkende Autos verschwendet wird. Also haben wir uns entschlossen, die Zahl selbst zu erheben, aktuell machen wir das bei Zählaktionen gemeinsam mit den Menschen vor Ort.

Wie lief die Zählung ab? Wir haben uns an einem Sonntagnachmittag im Anita-Berber-Park mit ca. 30 Anwohner*innen getroffen und dort in Kleingruppen aufgeteilt. Jede Gruppe hat dann ein paar Straßenzüge gezählt und zwar mit Flatterbändern, die so lang sind wie Parkplätze im Berliner Straßenraum. Die Ergebnisse unserer Hochrechnung haben wir dann online besprochen, bei einem Anschlusstreffen.

Warum habt ihr euch den Schillerkiez als Beispiel ausgesucht? Der Schillerkiez würde sich wegen seiner Lage als Kiezblock/autofreier Kiez anbieten, denn es gibt keinen Durchgangsverkehr. Außerdem ist es ein Kiez mit niedriger Autobesitzquote: Nur 30% der Haushalte haben einen privaten Pkw. Wir wollten wissen, wie viel öffentlicher Raum dort an parkende Autos verschwendet wird und waren selbst überrascht: Es sind 2.589 Parkplätze, die insgesamt eine Fläche von 4,5 Fußballfeldern einnehmen. Das ist sehr viel Platz in einem so dicht besiedelten Kiez. Außerdem wollten wir die Initiative „Hermannstraße für Alle“ bei ihrem Kampf für einen Pop-up-Radweg auch im nördlichen Teil der Hermannstraße, unterstützen. Unsere Zählaktion zeigt: Nur 4% der Parkplätze des Kiezes liegen entlang der Hermannstraße. Wir denken, dass diese auch sehr kurzfristig einem Pop-up-Radweg weichen können.

Du wohnst selbst in Neukölln. Wie erlebst du die Aufteilung zwischen geparkten Autos und Menschen persönlich? Wenn ich auf die Straße trete und die massenhaft parkenden Autos sehe, ärgere ich mich, denn mit der bestehenden Aufteilung des öffentlichen Raumes verhindern wir so viel: Kinder, die draußen spielen, Nachbar*innen, die sich begegnen und spontan zum Kaffee im kleinen Straßengarten verabreden, Menschen mit Geh-Einschränkungen, die sich sicher und entspannt auf der Straße bewegen können usw. Außerdem ist die Aufteilung sozial ungerecht, denn auch in Neukölln  haben ärmere Menschen deutlich seltener ein Auto als die Besserverdienenden, die es heute umsonst vor der Haustüre abstellen können. Gleichzeitig leiden ärmere Menschen besonders darunter, wie unsere Straßen heute aussehen, denn sie haben weniger Ressourcen, um am Wochenende ins Grüne zu fahren und sich zu erholen.

Was muss sich aus deiner Sicht ändern für eine lebenswerte Stadt? Parkplätze im öffentlichen Raum müssen meiner Meinung nach drastisch reduziert werden, denn dann ist in den Kiezen Platz für kühlendes Stadtgrün und Orte, an denen sich die Menschen aufhalten wollen. Und an den Hauptverkehrsstraßen kann dann sichere Fahrradinfrastruktur, wie an der Horrorstrecke Hermannstraße gebaut werden, und es gibt mehr Platz für den Ausbau des ÖPNV.

 Was sind eure nächsten Aktionen? Wir haben eine Zählaktion am 25. Oktober in Friedenau, zu der wir alle herzlich einladen. Außerdem wollen wir im November oder Dezember für einen Tag einen Parkplatz aus dem Richardplatz transformieren und die Ergebnisse unserer bisherigen Zählungen in einer Ausstellung vorstellen.

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