Nachbarschaft

Veröffentlicht am 16.03.2022 von Madlen Haarbach

Als Manal Iraki 16 war, nannten sie die anderen Bewohner:innen der Flüchtlingsunterkunft den „Krankenwagen“. Wie eine Notfallambulanz war sie immer zur Stelle, wenn jemand Hilfe brauchte: Sie half beim Übersetzen, Anträge ausfüllen, beim Zurechtfinden in diesem für alle neuen Land. Dabei war Manal Iraki gerade erst mit ihrer Familie aus dem Libanon nach Deutschland geflohen, musste sich selbst erst orientieren. „Mein Bruder und ich konnten einfach sehr viel schneller Deutsch als die anderen“, sagt sie. Mittlerweile ist Manal Iraki 47. Eine Art Krankenwagen für Menschen mit Migrationsgeschichte ist sie immer noch.

Seit knapp 15 Jahren arbeitet die gebürtige Palästinenserin im Schillerkiez als Stadtteilmutter, und wie eine Art Mutter für den Kiez fühlt sie sich auch. „Ich wollte immer den Menschen helfen“, sagt sie. Und die Zahl der Menschen, denen sie hilft, wächst: Ständig klingelt ihr Telefon, Familien aus dem Kiez fragen nach Tipps für eine Ärztin, nach Hilfe bei Behördengängen oder einfach einer schnellen Übersetzung. Manal Iraki hilft ihnen, durch den Dschungel an Behörden und Einrichtungen zu navigieren und greift auch ein, wenn es nötig ist. „Es gibt nur ganz wenige Familien, zu denen ich den Kontakt verloren habe“, sagt Iraki.

An einem Freitagvormittag Anfang März sitzt sie mit rotem Kopftuch und den für die Stadtteilmütter obligatorisch roten Schal, im Familienzentrum Vielfalt in der Silbersteinstraße. Hier empfängt sie regelmäßig Familien zu den verschiedenen Beratungsmodulen, die das Programm der Stadtteilmütter vorsieht. Es sind insgesamt zehn Einheiten, von Kinderrechten bis zum Umgang mit Medien. Neben Iraki auf dem grauen Sofa sitzt an diesem Tag Frau Hassan, die beiden kennen sich schon länger. Manal Iraki war mit ihr beim Arzt, versucht immer mal wieder, sie zu einem Sprachkurs zu überreden. Heute geht es um das Thema Gesundheitsförderung. Frau Hassan hat zwei Kinder mit geistigen Behinderungen, Deutsch spricht sie kaum.

In ihrer Muttersprache Arabisch geht Manal Iraki mit ihr das Modul durch: Sie erklärt, welche Anlauf- und Beratungsstellen es gibt, macht vor wie die Kinder ihre Zähne ordentlich putzen. Mit einer Hand macht sie Putzbewegungen im Mund, erst Kaufläche, dann Außenseite, dann Innen. Frau Hassan hört aufmerksam zu, nickt immer mal wieder mit dem Kopf. Iraki spricht über Verhütungsmethoden, den weiblichen Körper und erklärt, was eine gesunde Ernährung ausmacht. Auch sensible Themen wie Abtreibungen und Genitalverstümmelung spricht sie an. „Ich bin vorsichtig, ich frage nicht direkt, ob die Frauen selbst Erfahrungen mit Genitalverstümmelung haben. Aber ich versuche beizubringen, dass die Mädchen nicht verstümmelt werden sollen und auch, dass das in Deutschland strafbar ist“, sagt sie.

Insgesamt 31 Stadtteilmütter gibt es aktuell in Neukölln, sie verteilen sich auf verschiedene Kieze von Rixdorf bis in die Gropiusstadt. Mittlerweile ist das ursprüngliche Neuköllner Projekt zu einem berlinweiten angewachsen: Es gibt Stadtteilmütter – es sind stets Frauen – von Hellersdorf bis Spandau, von Reinickendorf bis Lichtenrade. Alle Frauen haben selbst eine Migrationsgeschichte und sprechen die Sprache derjenigen Familien, die sie unterstützen wollen, etwa Arabisch oder Urdu.

Als Stadtteilmutter ist Manal Iraki Ansprechpartnerin und Notfallambulanz in einer Person: Durch das Vertrauensverhältnis zu den Familien erkennt sie leichter als Außenstehende, wenn es Probleme gibt. So kann es sein, dass sich eine Mutter mal nach einem Mutter-Kind-Haus erkundigt. Bei schweren Fällen, wenn es etwa um Kindeswohlgefährdung geht – was bislang erst einmal vorkam – alarmiert Iraki auch das Jugendamt. Dabei werden die Stadtteilmütter nicht allein gelassen: Das Projekt wird von der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie finanziert und in Neukölln etwa von der Diakonie betreut.

Ihre Kolleginnen trifft Iraki wöchentlich zu einer Teamrunde, bei der Probleme besprochen und Strategien debattiert werden. Regelmäßig finden auch Fortbildungen für die Stadtteilmütter statt, wenn es etwa um neue Regelungen geht. „Eine Zeit lang habe ich jede Woche allen Familien die neuen Coronaregeln per Whatsapp erklärt“, sagt Manal Iraki und lacht. Auch das Thema Impfung kam natürlich zur Sprache. „Wir erklären aber nur, wozu die Impfung nutzt und empfehlen sie, wir sagen niemandem: Du musst dich impfen lassen“, sagt sie. Froh sei sie, dass die Treffen mittlerweile wieder normal stattfinden können: Denn viele der Familien, die sie betreut, leben in beengten Wohnverhältnissen unter teils schwierigen Bedingungen. Manal Iraki ist dann nicht nur Beraterin, sondern auch Freundin und Ausflucht aus dem engen Alltag. Wie ein Krankenwagen eben, der immer dort vor Ort ist, wo Hilfe benötigt wird.

Foto: Sven Darmer