Kiezgespräch

Veröffentlicht am 09.04.2020 von Caspar Schwietering

So richtig nach Feiern war Hermann Simon nicht zumute, als ich am Tag vor Pessach mit ihm sprach. „Ich habe Schwierigkeiten, das Feiern zu nennen“, sagte er mir. Simon ist Gabbai der Synagoge Rykestraße – das ist so etwas wie ein Küster. Doch der 1949 geborene Historiker ist noch mehr – keiner kennt die jüdische Gemeinde in Prenzlauer Berg so gut, Simon personifiziert ihre Erinnerung. An ein solches Pessach-Fest kann sich aber auch Simon nicht erinnern. Die Zusammenkunft der ganzen Familie? Das fällt dieses Jahr aus.

Eigentlich ist Pessach ein fröhliches Fest. In der acht Tage dauernden Pessach-Woche, die am Mittwochabend begonnen hat, feiern die Juden und Jüdinnen den Auszug aus Ägypten und das Ende der Sklaverei ihres Volkes. Eine Woche lang essen die Gläubigen deshalb kein gesäuertes Brot, denn fürs Säuern der Brote war während der Flucht keine Zeit – so will es die Überlieferung.

Am ersten Abend des Pessach, dem sogenannten Seder, kommt die ganze Familie zusammen und isst Speisen mit einer bestimmten liturgischen Bedeutung. Auf dem Tisch stehen drei Mazzot – das sind die ungesäuerten Brote. Außerdem unter anderem ein Gefäß mit Salzwasser und Bitterkraut – etwa Meerrettich – sowie ein Knochen mit etwas Fleisch. Der Knochen erinnert an das Pessachopfer – das Opferlamm. Das Salzwasser erinnert an die vergossenen Tränen, das Bitterkraut an die bitteren Leiden und die Mazzot gelten als „Brot der Armut“.

Bevor diese Speisen in einer aufwändigen Zeremonie nacheinander gegessen werden, muss erst mal das ganze Haus aufgeräumt werden. Nicht nur das normale Brot muss für acht Tage raus, sondern auch Nudeln, denn diese könnten ebenfalls fermentiert worden sein. Nach dem Frühjahrsputz kontrollieren die Kinder, ob auch wirklich alles Gesäuerte entfernt worden ist und entdecken zugleich die ungesäuerten Brote. Es ist ein lustiges Ritual – eigentlich. „Auf den Frühjahrsputz hatten meine Frau und ich dieses Jahr nicht so wirklich Lust“, sagt Simon.

Den ersten Pessach-Abend feierten Simon und seine Frau allein. Zum Seder trifft sich im Hause Simon sonst immer ein großer Kreis. Fünfzehn bis 20 Leute, die ganze Familie und einige Freunde. Dieses Jahr war alles anders. „Ich kann mich nicht erinnern, dass wir den Seder jemals haben ausfallen lassen“, sagt Simon. „Das heißt – in einem Jahr waren wir aus irgendeinem Grund verreist.“ Die typischen Matzen – die ungesäuerten Brotfladen für die Pessach-Woche – habe es auch in der Mangelwirtschaft der DDR gegeben. „Die wurden aus Ungarn geliefert“, sagt Simon, „und in der koscheren Metzgerei sowie bei der Synagoge verkauft.“ Doch nun stört die Pandemie die religiösen Rituale.

Die Synagoge gibt sich Mühe, den Gläubigen Normalität zu ermöglichen. „Wir haben zwei WhatsApp-Gruppen eingerichtet“, sagt der Kantor der Gemeinde Jochen Fahlenkamp. „So erreichen wir am einfachsten auch die alten Beter und Beterinnen“. In dem einen Kanal überträgt die Synagoge Gottesdienste und im anderen Kanal können die BeterInnen sich davor und danach austauschen. Dass das religiöse Leben weitergeht, ist Fahlenkamp wichtig. Das erklärt sich auch aus der Geschichte. Wenige Tage nach der Reichsprogromnacht öffnete die Synagoge Rykestraße wieder. Gottesdienste fanden noch bis 1940 statt. Und bereits 1949 startete hier das jüdische Leben erneut. Dass die Synagoge nun geschlossen ist, sei eine absolute Ausnahmesituation, sagt Fahlenkamp.

Zu Pessach hat Fahlenkamp Videos vorbereitet. Für die Online-Variante des obligatorischen Gottesdienstes am Sederabend postete Kantor Fahlenkamp nach und nach Videos und Audio-Aufnahmen im WhatsApp-Kanal der Gemeinde. Die Liturgien, Thora-Lesungen und Predigten hatte er zuvor zusammen mit Rabbiner Boris Ronis aufgenommen.

Hermann Simon hat sich das Zuhause angeschaut. „Aber es war nicht ganz das Gleiche“, sagt er. „Besser als nichts, aber irgendwie doch auch ein schwacher Abklatsch“. Trost spendet ihm der Gedanke, dass die Christen gerade ähnliches durchmachen mit Ostern. „Wir stehen das jetzt alle gemeinsam durch, damit wir uns bald wieder treffen können“, sagt er.

Text: Caspar Schwietering

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