Kiezgespräch

Veröffentlicht am 30.04.2020 von Christian Hönicke

Der Kampf um Prenzlauer Berg zum Ende des Zweiten Weltkriegs tobte vor 75 Jahren, als die Rote Armee in Berlin einmarschierte. Aller Wahrscheinlichkeit nach drang sie dabei zuerst in den Nordosten der Stadt ein, über den damaligen Weißenseer Ortsteil Malchow.

Nennenswerten Widerstand gab es allerdings vermutlich erst am letzten Verteidigungsring, der an der S-Bahn in Prenzlauer Berg begann. Die Autorin Annett Gröschner hat in ihrem Buch „Jeder hat sein Stück Berlin gekriegt“ die letzten Kriegstage vor allem in Prenzlauer Berg mittels Aussagen von ZeitzeugInnen nachverfolgt.

Darin berichten Hilde aus der Stargarder, Gerda vom Friedrichshain, Willi und Trude aus der Christburger, Walentina zwischen Hochmeister und Husemann, Margarethe aus der Wins, Christa aus dem Göhrener Ei, Wera aus der Landsberger, Inge aus der Bötzow, Ilse aus der Duncker, Erhard aus der Lothringer und Anna aus dem Zeitungsviertel.

Das Buch erschien 1998 bei Rowohlt und ist längst vergriffen. Allerdings hat uns Gröschner freundlicherweise erlaubt, daraus für unsere Newsletter-LeserInnen zu zitieren. Das tun wir gern – den zeitlichen Ablauf der Kämpfe rund um die Prenzlauer und Schönhauser Allee bis zur Kapitulation und die dramatischen, verstörenden Details finden Sie weiter unten im Kiezgespräch. An dieser Stelle schon einmal ganz herzlichen Dank an unsere Leserin Annett Gröschner.

„Berlin wurde Anfang Februar zur Festung erklärt, die Berliner Bevölkerung zum Bau von Panzersperren und zum Schanzen von Gräben in und vor der Stadt verpflichtet. (…)

Auch in Prenzlauer Berg wurden an jedem Ausgang der Straße Hindernisse aus abenteuerlichen Materialien errichtet. So war die Barrikade in der Pappelallee aus Steinen gemauert, wie Hilde sich erinnert, die Ecke Hochmeister/ Franseckystraße mit den gefällten Platanen der Straße verbarrikadiert, von denen Walentina noch heute einen Hackklotz im Keller stehen hat. (…)

Am 9. März gab das Oberkommando der Wehrmacht den „Grundsätzlichen Befehl für die Vorbereitung zur Verteidigung der Reichshauptstadt“. Ausgearbeitet wurde ein Verteidigungssystems mit drei Sperringen, dessen erster Ring 40 km vor Berlin, dessen zweiter Ring mit dem Stadtrand und dessen dritter, innerer Verteidigungsring, mit dem S-Bahn-Ring identisch war.

Die Ringe waren durchkreuzt von 8 Sektoren, A-H. Sektor H umfaßte neben Prenzlauer Berg Bernau, Pankow, Heinersdorf und Weißensee. Sitz der Hauptkampfleitung dieses Sektors war die Schultheiss-Brauerei Schönhauser Allee. Der Divisionsstand wurde im Keller der Schultheiss-Brauerei eingerichtet. Vorher hatten, so erinnert sich Walentina, dort ukrainische Zwangsarbeiterinnen für AEG gearbeitet, die im Souterrain des ehemaligen jüdischen Altersheimes in der Schönhauser Allee 22 hausen mußten. (…)

Zwei Drittel der Bevölkerungszahl der Vorkriegszeit befand sich noch in Berlin, in Prenzlauer Berg 209.000 Menschen, heute sind es nur noch 145.000, dazu kamen Flüchtlinge und Zwangsarbeiter, zum anderen standen aber nur zahlenmäßig geringe und mangelhaft ausgebildete Kräfte zur Verteidigung zur Verfügung. (…)

Mit einem Leuchtkugelabwurf bekommen die Bodentruppen der Roten Armee das Zeichen zum Kampfbeginn. Im Völkischer Beobachter von Freitag, dem 20. April 1945 wird auf Seite 2 mitgeteilt, daß am dem 21. April 1945, in der Zeit von 9-16 Uhr ein Übungsschießen einer Flakbatterie im Norden Berlins stattfindet. Das ist eine der letzten Propagandalügen, die viele Opfer kostet. Denn es wird scharf geschossen, und auf den Straßen des Prenzlauer Berg liegen an diesem regnerischen Sonnabend die ersten Toten.

Die 3. und 5. Stoßarmee, die 2. Gardepanzerarmee und 47. Armee der 1. Belorussischen Front dringen in die nördlichen und östlichen Stadtbezirke, in Heinersdorf und Weißensee ein. Der Völkische Beobachter kündigt unter der Rubrik Unterhaltung für den Abend ein Kammerkonzert des Berliner Philharmonischen Orchesters im Beethovensaal an. Am 22. April erreicht die Rote Armee die nördliche Grenze des Prenzlauer Berg.

Von diesem Zeitpunkt an haben die Bewohner des Prenzlauer Berg unterschiedliche Erlebnisse, je nachdem, ob ihre Straße in der Hauptkampflinie lag, wie bei Gerda, für die eine Odyssee durch die Stadt begann oder es so ruhig blieb wie bei Walentina, wo die Kellerbewohner nicht wußten, wo die Front steht, weil weder Panzer noch Soldaten zu sehen waren. Für die Bewohner nördlich der S-Bahn ist der Krieg spätestens am 28. April vorbei. Es gibt eine Ausgangssperre von 22 – 8 Uhr. Hundert Meter weiter südlich geht er vier Tage länger.

Die Rote Armee hat es schwer in diesem unübersichlichen Gebiet mit engen Straßen undurchschaubaren Häusern, vielen Höfen. Der Kampf um den Prenzlauer Berg fordert sinnlose Opfer unter der Zivilbevölkerung und unter den Soldaten beider Armeen. Auch Zwangsarbeiter, 9000 hielten sich zeitweise in Prenzlauer Berg auf, kommen bei den Kämpfen um.

Die wenigsten Opfer werden auf den Friedhöfen bestattet und wenn, dann nur in Massengräbern. Der weitaus größte Teil wird vorerst von Verwandten oder Nachbarn auf Höfen und Plätzen begraben. Als Särge dienen zusamengenagelte Dielenbretter oder Kleiderschränke. Im Sommer 1945 werden sie vom neu eingerichtete Bestattungsamt exhumiert und auf Friedhöfe überführt. Die genaue Anzahl der Opfer ist nicht bekannt. (…)

Nach den Kämpfen in der Prenzlauer Allee in Höhe der Immanuelkirche, wo vor allem der Volkssturm kämpfte und Kriegsmüde an den Barrikaden aufgeknüpft wurden, wie an so vielen Stellen im Prenzlauer Berg, mußte ein damals 17-jähriger, dessen Eltern ein Fuhrgeschäft besaßen, die Toten, die nur notdürftig auf dem Immanuelkirchhof verscharrt worden waren, zum Friedhof Prenzlauer Allee 1 fahren und dort begraben.

Die meiste Zeit dieser zwölf Tage verbringen die Menschen in den Kellern ihrer Häuser, ohne Licht; Luft und Wasser. Um das zu holen, müssen sie mitten im Beschuß, oft kilometerweit zu einer der noch funktionierenden Pumpen gehen und stundenlang anstehen. Ebenso ist es mit Lebensmitteln. Viele Frauen sind von diesen Beschaffungen nicht mehr zurückgekehrt und wurden auch nicht mehr gefunden.

Wo die Kämpfe abgeflaut sind, beginnen die Plünderungen. Vor allem im Tiefenreservoir des Wasserturms, später in der Schultheiss-Brauerei und im Bunker und in den Wohnungen der Goebbels-Siedlung, – deren Bewohner nach der Kapitulation das Weite suchten, mit gutem Grund, hatten dort doch fast ausschließlich Beamte des Kreishauses der NSDAP gewohnt – wird alles mitgenommen, was zu transportieren ist.

An der Kniprodestraße im Bötzowviertel, wo sich schließlich der Kampf konzentriert, brennt die SS eine Reihe von Häusern nieder, um freies Schußfeld für die auf den Hochbunkern im Friedrichshain postierten Geschütze zu erhalten. Die oft erst 17-jährigen Flakhelfer und Flakhelferinnen auf den Türmen schießen aus Mangel an Meßtischblättern mit dem Stadtplan von Berlin.

Allein in dem Karree Bardeleben/Virchow/Werneuchener Straße werden 48 Häuser mit ca. 1500 Wohnunger zerstört. Nach dem Krieg wohnte niemand mehr dort, so daß man sich entschloß, die Straßenbahnlinie durch die Kniprodestraße nicht mehr zu reparieren. In den fünfziger Jahren wurden im Rahmen des Nationalen Aufbauwerks auf der Seite zum Bötzowviertel neue Häuser errichtet. Die Seite zum Friedrichshain blieb unbebaut. Heute ist dort eine Wiese. Bei den Kämpfen um den Sportplatz Friedrichshain fielen allein 160 deutsche Soldaten. (…)

In den schon von der Roten Armee befreiten Gebieten richtet die Rote Armee Bezirkskommandanturen ein, die vorerst auf die Bezirkseinteilung keine Rücksicht nehmen. Später werden sie analog der Polizeireviere mit russischen Kommandanten und deutschen Bezirksvorstehern versehen, die die Befehle an die Straßen- und Hausobleute übergeben.

Am 29. April kommt die 3. Stoßarmee der 1. Belorussischen Front von Norden über die Schönhauser Allee durch und kämpft gegen versprengte SS-Trupps in der Pappelallee und in der Schönhauser Allee. Die Ulbricht-Gruppe kommt aus Moskau.
Am 30. April befiehlt Hitler, die Truppen an der Schönhauser Allee zusammenzuziehen und nach Nauen auszubrechen. 20 Uhr wird dieser Befehl wieder zurückgezogen, Hitler ist inzwischen schon tot, neuer Befehl war, die Stellung zu halten.

Die rote Fahne weht vom Reichstag und ist von den Dächern des Prenzlauer Berg zu sehen. Von Süden kommen am 1. Mai sowjetische Truppen, die die Innenstadt bereits befreit haben. In der Schwedter Straße wird gekämpft. Die deutschen Truppen in der Schönhauser Allee sitzen in der Falle, aber niemand gibt den Befehl zur Kapitulation.
Am 2. Mai, 0.40 Uhr bittet General Weitlings, Oberbefehlshaber der deutschen Truppen in Berlin, in einem Funkspruch um Einleitung von Kapitulationsverhandlungen.

Am 2. Mai, 3.30 Uhr beginnt der Ausbruchsversuch aus der Schultheiss-Brauerei durch die Schönhauser Allee nach Norden. Es gibt einen mehrstündigen Kampf in Höhe Wichert/Schivelbeiner Straße, in den auch Zivilisten verwickelt sind. Um 8.00 Uhr gibt der Befehlshabers des Verteidigungsbereiches Berlin General Weitling den Befehl zur Kapitulation. 14.30 kommt es an der Buchholzer Straße/Ecke Schönhauser Allee zur Kapitulation. Um 15.00 stellt die Mehrzahl der Wehrmachtsverbände in Berlin den Widerstand ein.

An diesem Tag werden 134 000 deutsche Soldaten und Offiziere von den Einheiten der 1.Belorussischen Front und der 1.Ukrainischen Front gefangengenommen. Viele hatten noch versucht, sich Zivilsachen zu beschaffen. Auch Inge aus der Bötzowstraße versteckte einen Soldaten im Keller. Laut Jacob Kronika fahnden die Russen im Laufe des Mai, „nach 50 000 Soldaten, die sich durch Tarnung als Zivilisten vor der Kapitulation der Kriegsgefangenschaft entzogen haben.

In ‚Heimweg 1945‘, beschreibt die Lyrikerin Inge Müller, die als Wehrmachtshelferin an den Kämpfen im Prenzlauer Berg teilnahm, zwanzig Jahre später in einem Gedicht ihren Weg über die Schönhauser Allee nach Friedrichsfelde:

Übriggeblieben zufällig
Geh ich den bekannten Weg
Vom Ende der Stadt zum anderen Ende
Ledig der verhaßten Uniform
Versteckt in gestohlenen Kleidern
Aufrecht wenn die Angst groß ist
Kriechend über Tote ohne Gesicht
Die gefallne Stadt sieht mich an
Ich seh weg.

Viele, die wie Walentina, Hilde, Inge oder Christa aus dem Keller wieder ans Tageslicht treten, erkennen ihre Straße nicht mehr wieder. Die Kinder haben das in ihren Aufsätzen 1946 beschrieben: ‚Die Straßen boten uns ein grausiges Bild. Halb ausgeschlachtete Pferde, Leichen des Volkssturmes, der Wehrmacht, zerschossene Geschütze, Berge von Munition. Und dann, was war inzwischen an Häusern abgebrannt‘. Hilde erinnert sich noch genau an den Sechzehnjährigen, der im Kino Colosseum aufgebahrt wurde, und noch heute, wenn sie in das frischrenovierte Multiplexkino geht, kommen ihr am Eingang die Tränen, und niemand der Umstehenden weiß warum.

Letzter umkämpfter Ort in Prenzlauer Berg ist die Schultheiss-Brauerei, wo sich Ortsgruppenführer und SS-Kampfleitungen verschanzt hatten. Die Brauerei ist Lazarett, Erschießungsplatz, Lebensmittellager und Wasserstelle. Ab 2. Mai ist sie eine Falle. Die Daten der Chronisten gehen auseinander, was die Kapitulation der Brauerei betrifft. Manche sprechen von 2./3.Mai, andere von 4./5. Mai, ganz sicher aber erst nach der Berliner Kapitulation. Die Russen stellen ein Ultimatum, Sprengladungen werden gelegt und drei deutsche Kommunisten als Parlamentäre in die Brauerei geschickt, wo nach zähen Verhandlungen die Kapitulation angenommen wird. (…)

In Prenzlauer Berg gibt es 689 total zerstörte Gebäude, das ist verglichen mit Mitte, wo 3575 Häuser Ruinen sind, nicht viel.“

 

– Text: Christian Hönicke
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