Kiezgespräch

Veröffentlicht am 07.05.2020 von Christian Hönicke

Kinder im Krieg. Am Freitag ist ausnahmsweise Feiertag. Denn vor 75 Jahren wurden Deutschland und die Welt am 8. Mai 1945 vom Nationalsozialismus befreit. Dieter Steiger hat daran noch detaillierte Erinnerungen. Er erlebte den Zweiten Weltkrieg und den Einmarsch der Roten Armee in Prenzlauer Berg als Sechsjähriger mit. Er wohnte in der Sonnenburger Straße 74, zweiter Stock. Die Explosion der bis vor kurzem aus dem Stadtgedächntnis verbannten Schule in der Straße überlebte er mit schwersten Verletzungen. Für den Pankow-Newsletter hat er in seinen Erinnerungen gegraben:

„Wie das damals war, als die Russen Berlin eroberten, soll ich berichten. Ich fange etwas früher an und schließe beide Augen und sehe mich an einem Herbsttag 1944 als sechsjährigen Jungen zusammen mit einer Freundin aus dem Nebenhaus auf der Straße Sonnenburger Ecke Kopenhagener Straße spielen.

Plötzlich wird auf der gegenüberliegenden Seite ein offenbar wehrloser Mann aus den Hausflur gezerrt und von zwei Männern im Ledermantel und Schlapphut mit Fäusten und Füßen bewusstlos geprügelt und in den PKW gezogen. Der Wagen fährt mit schneller Fahrt davon und vier ratlose Kinderaugen schauen dem Auto hinterher. Ein Streifenpolizist, der das Geschehen flankiert hatte, setzt seinen Rundgang fort. Wieder schließe ich die Augen und erfahre, wie es in einer Schule zugeht.

Meine Lehrerin setzt ihre pädagogischen Fähigkeiten in einer mir bisher unbekannten Weise durch. Angefangen von Backpfeifen und Kopfnüssen setzt sie ihre Autorität mit einem Lineal durch, welches sie auf unsere kleinen Hände sausen lässt oder einem Rohrstock, der unseren Allerwertesten verprügelt. Von ihrem Ehemann, unserem Rektor, bekam ich eine fürchterliche Ohrfeige deshalb, weil ich sein Rektorenzimmer statt mit dem ‚Deutschen Gruß‘, mit einem freundlichen ‚Guten Tag‘ betreten hatte. Erneut schließe ich meine Augen.

Wir hatten gerade einen der gefürchteten Tages-Angriffe der amerikanischen Luftwaffe hinter uns. Wir kamen aus unseren Luftschutzkellern und sahen, dass auf dem Dach der unserem Wohnhaus gegenüberstehenden BEWAG das Heckteil eines riesigen amerikanischen Bombers lag.

Das Wrackteil wurde mit Seilen heruntergezogen. Man fand darin den abgetrennten Unterschenkel eines weiblichen Besatzungsmitgliedes. An der Kopenhagener Straße zog zur gleichen Zeit eine ausgebombte Familie auf einem Handwagen ihre letzten Habseligkeiten hinter sich her. Etwas weiter, in der Dänenstraße, stand ein Wohnhaus in hellen Flammen. Es war aber niemand da, der es hätte löschen können. Ein weiteres Mal schließe ich meine Augen.

Am 3. Februar 1945 ließ die amerikanische Luftwaffe bei einem ihrer schwersten Angriffe in vielen Teilen von Berlin, im wahrsten Sinne des Wortes, kein Stein auf dem anderen. Auch bei uns hatte es eingeschlagen. Eigentlich sollte die Luftmine entweder die Schönfließer Brücke oder die BEWAG treffen und zerstören. Sie entschied sich aber für die ‚goldene Mitte‘ und zertrümmerte das Wohneckhaus Sonnenburger Ecke Kopenhagener Straße und begrub alles unter sich. Nun folgte die Zeit, in welcher die ‚Schlacht um Berlin‘ so richtig Fahrt aufnahm. Von Nordosten rückte Mitte April 1945 die ‚Zweite Weißrussische Front‘ unter Marschall Konew und von Südosten die ‚Ukrainische Front‘ unter Marschall Schukow auf Berlin zu.

Über unsere Köpfe sausten Jagdflugzeuge in Richtung Humboldthain. Desinformiert. wie wir alle waren, glaubten wir zunächst, es seien deutsche ‚Jäger‘ – mussten aber bald erkennen, dass es russische Kampfjäger waren, welche die Geschütze des Flakbunkers ‚Humboldthain‘ ausschalten sollten.

Dann hieß es, dass es in der Bornholmer Straße bereits die ersten Toten gegeben hat. Das war für alle Bewohner unseres Viertels das Signal, sich, mit allem was möglich war, in den Luftschutzkellern ‚häuslich‘ einzurichten. Egal ob Koffer, Kisten, Feldbetten und Matratzen, alles wurde nach unten geschleppt.

Das Bahngelände des Berliner S-Bahn-Rings wurde zur Hauptkampflinie erklärt und unter maßgeblicher Führung der Waffen-SS ‚mit Krallen und Zähnen‘ verteidigt. Egal ob 16 oder 60, jeder musste ran. Alles andere war Vaterlandsverrat. Der Bahndamm war etwa 150 Meter von unserer Haustür entfernt.

Plötzlich stand der erste russische Panzer T-34 hinter der Panzersperre an der Kopenhagener Straße und lieferte sich mit der deutschen Flak Lafette, welche auf dem ‚Exer‘ (heute Jahn-Sportpark) stand, die Sonnenburger Straße rauf und runter eine erste Schlacht. Der Panzer wurde durch den energischen Widerstand der Waffen-SS wieder zurückgedrängt. Er kam aber mit erheblicher Verstärkung wieder zurück.

Die Waffen-SS zog sich darum zur Gleimstraße zurück und erklärte diese Straße zur neuen Hauptkampflinie. Wer zu dieser Zeit als Zivilperson diese Straße überqueren wollte, war schon tot, bevor er den ersten Schritt getan hatte. So wurde unser Wohngebiet für 9 Tage ein Hauptkampfgebiet, in welchem täglich etwas anderes, an Schrecklichkeit kaum zu überbietendes geschah.

Auch an unserem Haus wurden Balkons ‚abrasiert‘ oder es waren andere Gebäudeschäden zu verzeichnen. Darum wollte meine Mutter in unserer Wohnung nach dem Rechten sehen und wurde bei dieser Gelegenheit von der BEWAG aus mit einem MG beschossen. Sie konnte sich in letzter Sekunde in Sicherheit bringen.

Weil im Nebenhaus eine Bewohnerin Munition fand, welche Russen in dem Hausflur deponiert hatten, und diese an einen unbekannten Ort getragen hatte, betraten die Soldaten unser Hausgrundstück. Ich befand mich zu diesem Zeitpunkt in einem Kellerverschlag, welcher unter anderem auch als Toilette diente, als eine MG-Salve die Eisentür traf. Ein paar ältere männliche Hausbewohner, welche sich im Vorkeller aufhielten, ergriffen die Flucht, sprich: Sie liefen in den Luftschutzkeller. Sie riegelten dabei beide Luftschutztüren hinter sich zu. Ich saß, somit ganz alleine und noch immer völlig arglos auf meinem Eimer.

Plötzlich fegte mich der Luftdruck einer auf der Kellertreppe explodierenden Handgranate von meinem Eimer. Kurz nachdem ich mich wieder aufgerappelt und auf meinen Eimer gesetzt hatte, wurde die Tür des Kellerverschlages, in dem ich mich befand, aufgerissen und ich schaute direkt in mehrere Mündungsrohre ihrer Maschinengewehre und in doppelt so viele erstaunte Soldatenaugen. Die Soldaten hatten in dem Kellerverschlag alles andere vermutet als …

Als ich kurze Zeit nach ihnen den Luftschutzkeller betrat, wurde ich nicht nur von meiner Mutter auf eine Liege gezerrt, sondern wurde Zeuge eines lautstark geführten Streitgesprächs von einem Ehepaar, welches nicht nur Deutsch sondern auch perfekt Polnisch sprach, und dem weißrussischen Zugführer, welches glücklicherweise zu unseren Gunsten ausging. Einer der Soldaten wollte uns nämlich am liebsten alle erschießen.

So löste ein Ereignis das nächste ab. Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen und wo ich aufhören soll. So viele waren es. Für mich war beispielsweise eines der traurigsten davon, dass mein Freund Udo, der an Diabetes Type I litt, darum sterben musste, weil kein Insulin zur Verfügung stand.

Endlich war der Krieg zu Ende. Wir trauten diesem Frieden nicht, aber er war, wie es schien zunächst real. Als wir aus dem Hauseingang traten sahen wir auf der einen Seite vor Freude tanzende Mädchen auf der anderen tote Zivilpersonen und Soldaten. Wir sahen auch den Panzer T-34 mit seiner Besatzung an der Schönfließer Brücke stehen. Wir sahen aber auch die Trümmer jener Häuser, welche die feurigen Straßenkämpfe, welche durch unsere Gegend gefegt waren, nicht heil überstanden hatten. Aber wir haben überlebt!

Doch wie sagt man so schön? Aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Am 18. Juni 1945 erschütterte eine rund sechs Stunden währende Großexplosion unser Wohngebiet und zerstörte unsere Schule total. Bei dieser Explosion kamen etwa 30 Personen ums Leben und ich kann sagen, ich war mitten drin in diesem grausigen Geschehen und konnte, mehr tot als lebendig, aus diesem Inferno gerettet werden. Der Preis war ein doppelter Schädelbasisbruch und nachfolgend eine Epilepsie, welche eigentlich mein ganzes Leben beeinträchtigt hatte.

Die Schule lag in der Sonnenburger Straße 67 – dort, wo heute der Spielplatz ist: die 7. und 8. Volksschule Prenzlauer Berg für Mädchen und Knaben. Die Soldaten der ‚Belorussischen Front‘ hatten nach Beendigung der Kampfhandlungen deutsche Restmunition auf unserem Schulhof deponiert, sodass ein Drittel des Fläche des Schulhofs mit der Munition aus allen Waffengattungen bis zur Höhe der ersten Etage gestapelt wurde. Auf ein Veto einiger Eltern bei der Kommandantur in der Gleimstraße, dass es nicht sein kann, dass täglich über 500 Kinder, an dieser Munition vorbei gehen müssen, um in ihre Klassenräume zu gelangen, wurde zugesichert, dass Abhilfe geschaffen wird.

Am 18. Juni 1945 fuhren während des Unterrichts mehrere russische Militärlastwagen auf den Schulhof, russische Soldaten liefen in die umliegenden Wohnhäuser und holten alle ‚Altnazis‘ heraus und brachten sie zum Schulhof. Dort befahl man ihnen die Munition auf die Lastwagen zu laden. Wohlgemerkt, bei laufendem Unterricht.

Jeder von denen, welche an dem Munitionsabtransport beteiligt waren, egal ob Russen oder Altnazis, sie wurden bereits bei der ersten Detonation zerfetzt. Ihre Körperteile fand man Tage später auf den Dächern der Wohngegend verstreut. Ich wurde von den herabfallen Teilen der Zimmerdecke unseres Klassenraumes verschüttet und nur durch den mutigen Einsatzes des Vaters eines Mitschülers von mir, gerettet.“

Die DDR tilgte diesen Teil der Nachkriegsgeschichte rigoros, um die Sowjetunion nicht zu brüskieren. So verschwand die Schule aus allen offiziellen Archiven. Ein Problem wurde das, als Steiger Rente als Kriegsgeschädigter beantragen wollte und man ihm Beschied, dass es jene Schule nie gegeben habe.

Doch damit fand sich Steiger nicht ab, recherchierte auf eigene Faust und bewies schließlich auch den Ämtern, dass die Schule einst in der Sonnenburger Straße gestanden hatte. Darüber und über seine anderen Kriegserinnerungen schrieb er schließlich das autobiografische Buch „Berlin Ecke Sonnenburger“.

Wie andere Kinder aus Prenzlauer Berg die letzten Kriegstage erlebten, kann man im Buch von Annett Gröschner nachlesen. Es heißt „Ich schlug meiner Mutter die brennenden Funken ab“ und besteht aus Aufsätzen von Schülern aus Prenzlauer Berg. Diesen einzigartigen Schatz hat mein Kollege Andreas Austilat in seinem Artikel gehoben. – Text: Christian Hönicke
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Diesen Text haben wir dem neuen Tagesspiegel-Newsletter für Berlin-Pankow entnommen. Den gibt es in voller Länge und kostenlos hier: leute.tagesspiegel.de

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