Kiezgespräch

Veröffentlicht am 25.06.2020 von Christian Hönicke

1888 Parkplätze, 3 Sitzbänke: So werden Autofahrer bevorzugt. Über die vielen Autos in seinem Viertel und den wenigen Platz für alles andere hat sich Sören Bergmann lange aufgeregt. Wie viel Raum eigentlich genau in Berlins Innenstadt für Privatautos im Vergleich etwa zu Fußwegen hergegeben wird, wollte er wissen. „Doch das Land und der Bezirk verweigern sich und stellen keine Daten zur Verfügung beziehungsweise erheben sie erst gar nicht. Die machen einfach keine Flächenuntersuchungen.“ Im gesamten Mobilitätsbericht 2017 finde man so eine Betrachtung nicht ein einziges Mal.

In seiner Elternzeit hat der Diplomingenieur aus Prenzlauer Berg das nun selbst ausgerechnet und eine „Untersuchung zur Verteilung der öffentlichen Straßenflächen im Gleimviertel“ durchgeführt. „Dafür habe ich etwa acht Stunden gebraucht.“ Er kommt zu dem Ergebnis: 54 Prozent der Flächen in seinem Kiez sind de facto für Autos reserviert, 26 Prozent allein für Parkplätze. Als Kontrast wählt er eine andere Zahl: Im gesamten Viertel stehen lediglich drei öffentliche Sitzbänke. Gewidmete Grünflächen wie den Falkplatz oder Sportanlagen wie den Jahn-Sportpark nahm Bergmann von der Studie zum Straßenland aus.

Im Viertel gibt es laut Bergmann rund 5176 Haushalte, 1888 Pkw-Stellplätze sowie 114 Fahrradstellplätze (auf den Gehwegen). „Somit gibt es pro hundert Einwohner ca. 36 Autoparkplätze, 2 Fahrradständer, und nahe 0 öffentliche Sitzgelegenheiten.“ Er erhebe keinen Anspruch auf absolute Richtigkeit, sagt er. „Doch Vergleiche mit den Ergebnissen offizielle Statistiken (Mobilitätsreport, Flächengerechtigkeitsreport) zeigen, dass die Ergebnisse plausibel sind.“ Hier sind seine Ergebnisse im Einzelnen:

  • Fahrbahnen: Sie werden von Autos und Radfahrern genutzt. Sie belegen rund 28 Prozent der Verkehrsfläche.
  • Parkflächen für Pkw: Sie nehmen rund 26 Prozent der Verkehrsfläche ein, die damit dem privatem Gebrauch zugeführt wurde.
  • Die seitlichen Straßenflächen (oft „Gehwege“ genannt): Sie werden im Gegensatz zu den beiden oben genannten Flächen vielfältig genutzt – eben als Gehweg, zum Aufstellen von Sitzgelegenheiten für Gastronomie, als Abstellfläche für Fahrräder, Roller und Motorräder, für Baumscheiben und kleine Beete, Aufstellen von Werbebannern, Ladesäulen, Trafohäuschen, zum geselligen Beisammensein etc. Auf ihnen spielt sich das öffentliche Leben ab. Ihnen wird rund 46 Prozent der Verkehrsfläche eingeräumt.

Im gesamten Prenzlauer Berg gibt es laut einer vom Bezirksamt beauftagten Studie sogar 19.091 Auto-Parkplätze im öffentlichen Raum. Das macht bei 13 m² pro Stellplatz knapp 250.000 m². „Dies entspricht ziemlich genau der Größe des Thälmann-Parks oder des Jahn-Sportparks“, so Bergmann. Ein ganzer Park – nur für Autos.

Bei Diskussionen mit Anwohnern sei ihm aufgefallen, „dass viele die bisherige Raumnutzung nicht hinterfragen“, so Bergmann. Der hohe Platzbedarf der Autos scheine „die Illusion zu erzeugen, dass die Mehrheit der Bewohner einen Pkw besitzt“. Dem sei aber nicht so. In Prenzlauer Berg würden laut offiziellen Statistiken weniger als 20 Prozent der Einwohner ein eigenes Auto besitzen.

Die kleine Gruppe der Pkw-Besitzer werde durch den Bezirk also „auf Kosten der Allgemeinheit privilegiert“, so Bergmann. Umgekehrt würden die Interessen des Großteils der Bevölkerung durch die vorgegebene Platzverteilung „systematisch ignoriert“. Bergmanns Fazit: „Die Privatisierung des öffentlichen Raums sollte beendet werden. Wenn man das nicht möchte, sollten alle Anwohner ein Anrecht auf die private Nutzung einer bestimmten Fläche haben.“

Das Bezirksamt habe er daher gefragt, ob man zwei Pkw-Parkplätze in der Sonnenburger Straße in Fahrradparkplätze umwandeln können, sagt Bergmann. „Es hieß, dass sie es prüfen, es aber sehr unwahrscheinlich ist. Das ist wirklich absurd bei 1888 Autoparkplätzen.“ Da widerspricht das Bezirksamt. Man habe Bergmann lediglich mitgeteilt, dass die Umwandlung noch in diesem Jahr unwahrscheinlich sei, sagt der zuständige Stadtrat Vollrad Kuhn (B’90/Grüne).

Kuhn vermutet, dass die Erhebung zum Gleimviertel prinzipiell korrekt ist, und er sieht auch Änderungsbedarf: „Im Sinne der Flächengerechtigkeit sollte das Verhältnis im Sinne von mehr Platz für die schwächsten Verkehrsteilnehmer zum Beispiel zu Ungunsten der Parkplätze auf öffentlichem Straßenland geändert werden.“ Es werde im Zuge der Einrichtung der Gleimstraße als Fahrradstraße „dazu einige Maßnahmen geben“. In diesem Jahr wolle das Bezirksamt zudem in den beiden Fahrradstraßen Ossietzkystraße und Stargarder Straße rund 100 „Kreuzberger Bügel“ auf bisherigen Autoparkplätzen aufstellen. Kuhn: „Viele weitere Parkplatzumwandlungen sind in den nächsten Jahren geplant.“ – Text: Christian Hönicke

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