Kiezgespräch
Veröffentlicht am 06.08.2020 von Christian Hönicke
Fußgänger haben genug von „Ego-Radfahrern“. Nach unserem Bericht über die unsichersten Kreuzungen in Berlin und Pankow haben sich viele Leserinnen und Leser gemeldet, die beklagen, dass die steigende Gefährdung auf Gehwegen dabei unter den Tisch gefallen ist. Im Artikel schrieb mein Kollege Caspar Schwietering: „Die Daten zeigen auch, Radfahrende und Fußgänger*innen bauen miteinander kaum Unfälle, fast immer ist ein Auto involviert.“ Ein Leser will das so nicht stehen lassen: „Radfahrende und Fußgänger bauen miteinander kaum Unfälle? Natürlich nicht: Dazu haben die Fußgänger zu viel Angst angefahren zu werden – und springen sogar auf ihren Gehwegen lieber beiseite.“
Die permanente Gefährdung für Fußgänger durch Gehwegradler und E-Tretroller beklagt auch Dani K. „Es ist schlimm, wie in Berlin Fußgänger diskriminiert werden“, schreibt sie. „Nirgends gibt es eine Möglichkeit der Entspannung an der Luft. Alle Macht den Radfahrern. Sie sind überall kreuz und quer um die Fußgänger herum.“ Sogar in den Parks sei man vor Radfahrern längst nicht mehr sicher, „schon gar nicht auf den Gehwegen. Sobald sie in der Prenzlauer Allee Höhe Bahnhof laufe, werde sie auf dem Gehweg sofort von Fahrrädern attackiert. Es gibt keinen noch so kleinen Pfad, wo sie nicht belästigen – man kann nirgends in Ruhe laufen. Die Ego-Radfahrer stören alles. Was auch sehr schlimm ist: Die Erwachsenen bringen ihren Kindern auf Rädern schon diese rigorose Rücksichtslosigkeit bei.“
Die „Ego-Radler“ auf Gehwegen stören auch Jan H. massiv: „Wenn ich am Abend von der Arbeit nach Hause laufe kommen mir auf dem Gehweg der Danziger Straße oft Radfahrer entgegen. Sofern ich noch genug Kraft habe, versuche ich in unaufdringlichen Ton, geradezu krampfhaft lässig, den Gehweg-Radfahrern den Hinweis zu geben, dass auch ein Radstreifen existiert. Geschätzt in 15 bis 20 Prozent der Begegnungen kommt als Antwort „F*ck Dich Du A*loch“ oder ähnlich. Pöbeleien sind unser Alltag und haben nichts mit Autofahrern zu tun.“
Selbst in der neu eingerichteten Fahrradstraße in der Ossietzkystraße würden Radfahrer weiterhin über die Gehwege brettern, schreibt Ralf T.: „Da ich selbst im Kiez wohne, bekomme ich in letzter Zeit häufig mit, dass die neue Straße gar nicht genutzt wird. Stattdessen werde ich auf dem Bürgersteig als Fußgänger angeklingelt. Bei dem Hinweis auf die Fahrradstraße erklärt man mir dann, es sei auf dem Kopfsteinpflaster zu ruckelig. Hier frage ich mich allerdings auch, warum man das letzte Stück nicht einfach auch bituminiert hat. Professionelle Arbeit sieht tatsächlich anders aus.“
Gehwegradeln trotz vorhandener Radwege moniert auch die „frustrierte Fußgängerin“ Annemarie P.: „Schade, dass sich noch kein Aktivist gefunden hat, der gnadenlos die Radfahrer verfolgt, die sich auf den Gehwegen breitmachen – manchmal sogar, wenn Radwege vorhanden sind. Wagt man als betroffener Fußgänger mal einen Hinweis, wird meist im Pöbelton reagiert. Die selbstgerechten und zum Teil auch sehr rücksichtlosen RadfahrerInnen können einem manchmal ziemlich auf den Senkel gehen.“
Geradezu fußgängerfeindlich empfindet auch Georg S. das Auftreten von Fahrrad-Aktivisten und Interessensgruppen wie dem ADFC. „Sie maßen sich an, für Fußgänger zu sprechen. Jedoch unternehmen diese Gruppen fast nichts für den Schutz von Fußgängern – im Gegenteil fördern sie eine Verkehrspolitik, die den Schutzraum von Fußgängern immer weiter aufweicht und Fußgänger dadurch auf lange Sicht immer mehr gefährdet, insbesondere Kleinkinder und Behinderte. Prinzipiell ist mehr Radverkehr sehr zu begrüßen ist. Ich selbst fahre auch Rad. Jedoch werden durch die positive Entwicklung von mehr Fahrradfahrern auf Berlins Straßen die aktuellen verkehrspolitischen Planungsfehler zum Nachtteil der Fußgänger immer fataler. Unfälle zwischen Fußgängern und Radfahrern sollten daher keine Kollateralschäden einer undifferenzierten, unregulierten Fahrradpolitik sein.“
Unterstützung bekommen unsere LeserInnen dabei übrigens vom TÜV-Verband. Der Blick auf die deutschlandweite Unfallstatistik 2019 kommt er zu der Einschätzung, neben Radfahrern seien insbesondere Fußgänger gefährdet: „Die Infrastruktur muss sichere Rahmenbedingungen für alle stellen. Egal, ob Kleinkind oder Rentner“, so Richard Goebelt, Geschäftsbereichsleiter Fahrzeug und Mobilität des TÜV-Verbands (VdTÜV). „Das fängt bei sicheren Möglichkeiten an, die Straße zu überqueren.“
Für den Anfang wäre es schon ein Fortschritt, wenn Fußgänger wenigstens auf dem Gehweg sicher wären und das inzwischen weit verbreitete Fahren dort konsequenter geahndet würde. Dafür ist die Berliner Polizei zuständig. „Das Befahren von Gehwegen birgt für schwächere Verkehrsteilnehmerinnen und -teilnehmer Gefahren“ und werde daher geahndet, teilt sie pflichtbewusst mit. In den vergangenen Jahren sei es ihr „gelungen, die Ahndungszahlen beim Befahren von Gehwegen durch Radfahrende und beim Befahren von Gehwegen durch Fahrzeuge kontinuierlich zu steigern (in 2018 plus 25 Prozent gegenüber 2017, in 2019 plus 50 Prozent gegenüber 2018).“
Die Steigerung dürfte vermutlich weniger auf das gesteigerte Augenmerk der Ordnungshüter als vielmehr auf die generell zunehmende Raserei auf Bürgersteigen zurückzuführen sein. „Im Jahr 2019 wurden 5800 solcher durch Radfahrende begangenen Verstöße verfolgt“, so eine Polizeisprecherin. Hinzu kommen 597 verfolgte Verstöße „durch Kraftfahrzeuge (insbesondere E-Scooter)“. Macht im Schnitt 17 erwischte Gehweg-Fahrer in ganz Berlin pro Tag. Die Dunkelziffer dürfte ein Vielfaches betragen, das räumt auch die Polizei ein: Das Befahren von Gehwegen geschehe „meist nur sehr kurzfristig, was das allgemeine Entdeckungsrisiko verringert“.
Wie die grassierende Gehwegfahrerei wieder einzudämmen ist, darauf hat die Berliner Polizei keine Antwort. Dafür hat sie einen Tipp für Zufußgehende, die auf Gehwegen unvermeidlicherweise durch Fahrzeuge bedrängt werden: Am besten zur Seite gehen und nix sagen. Man solle sich „nicht in Streitigkeiten oder Gefahren begeben“. Ein Ansprechen der Gehwegfahrer solle, wenn überhaupt, dann „höflich und nicht aggressiv erfolgen“. Das Fehlverhalten solle aber besser der Polizei gemeldet werden.
Tja, aber wie soll man unbekannte Radfahrer ohne Kennzeichen in einer Millionenmetropole denn konkret anzeigen? Ernsthafte Antwort der Sprecherin: Fußgänger sollten bei einer Anzeige „Beschreibung von Person und Fahrrad“ nennen. Soweit die Idealvorstellung der Berliner Polizei von Sicherheit auf Gehwegen. Mit der oben von unseren LeserInnen geschilderten Realität in Berlin hat sie wenig zu tun. – Text: Christian Hönicke
+++ Diesen Text haben wir dem neuen Tagesspiegel-Newsletter für Berlin-Pankow entnommen. Den gibt es in voller Länge und kostenlos hier: leute.tagesspiegel.de
Mehr Themen aus dem Pankow-Newsletter:
- Schulstart in Pankow: Wie vertragen sich Lehrer- und Raummangel mit der Pandemie?
- Ein Pankower als „König von Albanien“: Wie ein Hochstapler sich zum Herrscher ausrief
- Liegen verboten: Im Schlosspark Schönhausen dürfen Besucher ab sofort nicht mehr auf der Wiese verweilen
- Brauner-Erben schlagen Gesprächswunsch der Colosseum-Mitarbeiter aus
- Kino „Blauer Stern“ startet nach Renovierung
- Michelangelostraße: Anwohner werfen Stadtrat „Wortbruch“ vor
- Nazi als Namensgeber: Rudolf-Dörrier-Grundschule wird „Grundschule in Rosenthal“
- Nach 13 Jahren: Kulturhaus „Peter Edel“ in Weißensee wiedereröffnet
- Mutter mit Säugling vermisst
- Nicht denkmalwürdig, aber „stadtgeschichtlich besonders“: Landesdenkmalamt mit verwirrender Einschätzung zum Jahn-Stadion
Den Pankow-Newsletter vom Tagesspiegel gibt es in voller Länge und kostenlos hier: leute.tagesspiegel.de +++