Nachbarschaft

Veröffentlicht am 21.12.2017 von Ulrike Scheffer

Michelle (10), Chayenne (15), Nathalie (17) und Angelina (13), auf dem Bild von links nach rechts, leben in einer Wohngruppe des Vereins Kindeswohl in Buch. Seit einigen Monaten beschäftigen sie sich intensiv mit dem Schicksal von Anne Frank. Das Projekt zieht weite Kreise. Ende Januar stellen es die Vier zusammen mit zwei weiteren Mitbewohnerinnen im Abgeordnetenhaus vor.

Anne Frank als Vorbild. Der Anstoß für das Geschichtsprojekt kam von Nathalie. Anne Frank gehörte im vergangenen Frühjahr zum Schulstoff in ihrer Klasse. „Es hat mich so beschäftigt, dass ich mehr erfahren wollte“, sagt sie. Wohngruppenleiterin Karen Kraatz griff das auf. „Wir versuchen ohnehin, die Mädchen für ein, zwei gemeinsame Projekte im Jahr zu begeistern. Ein so anspruchsvolles hatten wir allerdings noch nie.“ Und auch noch kein so langanhaltendes, ergänzt sie. Die anderen aus der Gruppe zogen mit. „Anne war ja in unserem Alter“, sagt Chayenne, „es ist beeindruckend, wie sie das alles durchgestanden hat und trotz ihrer Angst noch glücklich sein konnte.“

Die Wohngruppe wurde zum Museum. Die Mädchen recherchierten im Internet, besuchten das Konzentrationslager Sachsenhausen und die Synagoge in der Rykestraße in Prenzlauer Berg. Auf Flohmärkten stöberten sie nach Gegenständen aus der Zeit Annes. Die Ergebnisse hängen nun im Esszimmer neben vielen Schwarz-Weiß-Bildern ihrer Heldin: ein Paar braune Kinderschuhe aus Leder, eine Zahnbürste aus Holz, ein alter Schulranzen, ein verfilzter Teddybär – und ein schlichtes helles Sommerkleid mit breitem brauen Kragen, das inhaftiere Mädchen in Theresienstadt tragen mussten. Auch einige Originalkoffer aus den 1940er Jahren stehen in der Wohngruppe herum. In einem Kofferdeckel ist noch der Name der früheren Besitzer zu lesen: Fleischmann, Angermünde. Die Mädchen gingen noch weiter: Per Aushang suchten sie nach Zeitzeugen und lernten so einen 95-jährigen pensionierten Oberstudienrat kennen. Dieser erzählte ihnen von seinem jüdischen Freund, der plötzlich nicht mehr da war.

Abenteuer Amsterdam. Bisheriger Höhepunkt für die Mädchen war die Reise zum Anne-Frank-Museum in Amsterdam, das in jenem Haus untergebracht ist, in dem Anne und ihre Familie mehr als zwei Jahre lang vor den Nazis versteckt wurde. Um die Reise zu finanzieren, bewarb sich die Gruppe um Fördergelder beim Bezirk. Dafür mussten sie ihr Projekt vor einer Jugendjury präsentieren. Sie überzeugten. 1000 Euro bekamen sie für die Fahrt – und Ende September eine Woche frei in der Schule. Zur Vorbereitung schrieben die Mädchen einen langen Brief an Anne, den sie später dem Museum übergaben. „Auf dieser Reise wollen wir genauso mutig und aufgeweckt und clever sein, wie du es warst“, heißt es darin. In Annes Versteck kamen einigen doch die Tränen. Es gab aber auch fröhliche Momente. Und ein kleines Abenteuer für die 10-jährige Michelle. „Einmal bin nicht rechtzeitig aus der Straßenbahn ausgestiegen und war plötzlich ganz allein.“, erzählt sie. Angelina berichtet strahlend, wie sie ihren 13. Geburtstag in einem Amsterdamer Café gefeiert hat.

Das Fazit der Mädchen: „Wir haben von Anne viel gelernt, zum Beispiel, dass man nie den Kopf in den Sand stecken darf“, sagt Chayenne.

Wer soll hier als nächstes vorgestellt werden? Sie selbst? Jemand, den Sie kennen? Wir freuen uns auf Ihre Vorschläge unter: leute-c.hoenicke@tagesspiegel.de