Nachbarschaft
Veröffentlicht am 19.04.2018 von Christian Hönicke
Alexander Schmejkal aus Prenzlauer Berg arbeitet im geschichtsträchtigen Gelände der „Backfabrik“ an der Prenzlauer Allee – und beförderte dort einst atomkriegssichere Hinterlassenschaften der NVA zu Tage. Hier stellen wir seine Geschichte vor, die er im Erzählsalon „Mein schönstes Erlebnis im Kiez“ öffentlich machte. Dieses Veranstaltungsformat wurde von „Rohnstock Biografien“ entwickelt, einem Prenzlauer Berger Unternehmen, das sich ost- wie westdeutschen Biografien widmet:
Ich bin Sachse. Im Prenzlauer Berg lebe ich seit 1968. Hier, an der Ecke Prenzlauer Allee/Saarbrücker Straße, befand sich zu DDR-Zeiten der Stammbetrieb „Aktivist“ des VEB Backwarenkombinats Berlin. Nach der Wende führte der Berliner Unternehmer Horst Schiesser die Großbäckerei unter dem Namen Cityback bis 1997 weiter. Im Frühjahr 2000 erwarb die Real-Estate Merger & Management Grundstücks GmbH (R.E.M.M.) die Immobilie und krempelte sie völlig um. In dem unter dem Namen Backfabrik bekannten Gebäudekomplex befindet sich heute ein modernes Medienzentrum, in dem über 40 Unternehmen angesiedelt sind. Als Prokurist der R.E.M.M. übertrug mir mein Chef die Bauherrenvertretung für die komplexe Baumaßnahme. Eine Funktion, in der ich möglicherweise um ein Haar zum Helfershelfer nordkoreanischer Forschungsprogramme geworden wäre – man muss ja nicht gleich an die Atombombe denken, aber wer kann das schon wissen …
Aber der Reihe nach: „Herr Schmejkal“, nahm mich mein Chef eines Tages beiseite, „ob Sie wohl morgen ausnahmsweise einmal einen Schlips umbinden könnten? Wir erwarten eine hochrangige Delegation aus der Demokratischen Volksrepublik Korea.“ Tatsächlich hielten gleich früh am Morgen mehrere Fahrzeuge mit Diplomatenkennzeichen vor unserem Haus. Die Herren, die aus den Limousinen ausstiegen, trugen allesamt feinsten Zwirn. Der Dolmetscher, den sie im Schlepptau hatten, ließ mich wissen: „Wir wollen die Steuerung sehen!“
Wer ihnen erzählt hatte, dass sich im zweiten Obergeschoss der Saarbrücker Straße 38A noch die gesamte elektronische Steuerungsanlage der Großbäckerei befand, weiß der Teufel. Da die Produktion – angefangen bei der Mehlportionierung – vollautomatisch lief, nahm die Technik die gesamte Etage ein. Gemeinsam stiegen wir hinauf in den zweiten Stock. Die Koreaner ließen sich sämtliche Schaltschränke zeigen, allesamt vollgestopft mit moderner Schalt- und Regelungstechnik.
Offenbar handelte es sich bei der Delegation um Top-Fachleute, denn sie nahmen alles genau in Augenschein, diskutierten lebhaft auf Koreanisch und nickten wissend. Nach eingehender Untersuchung richtete sich der Dolmetscher mit einer Frage an mich: „Mit welcher Taktfrequenz arbeitet die Steuerung?“ „Ich nehme an, mit bis zu zehn Megahertz“, erwiderte ich. Die Antwort schien den Herren nicht zu gefallen. Sie schüttelten die Köpfe. „Das ist viel zu wenig!“, gab mir der Dolmetscher zu verstehen. Unverrichteter Dinge zog die Truppe wieder ab. Ich habe bis heute keine Ahnung, was die Koreaner mit der Steuerung des ehemaligen Backwarenkombinats vorhatten.
Als wir die Immobilie Anfang 2000 übernahmen, standen sämtliche Gebäude leer. Auf einem meiner Rundgänge fand ich in einem ehemaligen Büro die Baudokumentation für das gesamte Areal. Sie stammte noch aus jener Zeit, als sich auf dem Gelände der Backfabrik die Zentrale des nach dem Krieg enteigneten Gastronomieunternehmens Aschinger befunden hatte. Die kompletten Pläne des Gebäudekomplexes: Das war natürlich Goldstaub!
Beim Studieren der Unterlagen fiel mir etwas auf: Im Gebäude Saarbrücker Straße 36 befand sich laut den Zeichnungen im fünften Obergeschoss ein Raum, welcher gar nicht existierte. Dort, wo die Tür eingezeichnet war, befand sich eine geschlossene Wand. Ich rätselte zusammen mit meinem türkischen Polier Shaban – der „guten Seele“ vom Bau und hernach ein teurer Freund – über diesen geheimnisvollen Raum und meinte schließlich: „Los, hol Deinen Vorschlaghammer!“
Wumm! Ich leuchtete mit meiner Taschenlampe in die geheime Kammer und bekam vor Staunen den Mund nicht wieder zu. Der Raum war bis unter die Decke gefüllt mit Komplekte-Brot. Jedes einzelne Brot fein säuberlich in Alufolie eingeschweißt. Das Zeug war übrigens noch genießbar. Obgleich es weit über ein Jahrzehnt dort oben im Verborgenen herumgelegen haben musste, schmeckte es wie am ersten Tag. Ich ging zu meinem Chef und vermeldete: „Ich habe hier einen Riesenhaufen atomkriegsicher verpacktes Brot für die NVA.“
Shaban beauftragte einen Jugoslawen, sich der Sache anzunehmen. Gleich am nächsten Tag fuhr der mit zwei großen Lastkraftwagen vor und holte das Brot – es waren 16 Tonnen – dort oben heraus. Was er damit anstellte, weiß ich nicht. Indessen vermute ich, dass das Brot auch heute noch genießbar wäre.
Foto: Rohnstock Biografien. Mehr Alltagsgeschichte(n) finden Sie hier. Wenn Sie Ihre Lebensgeschichte ebenfalls aufschreiben lassen möchten, können Sie sich per Mail an info@rohnstock-biografien.de wenden.