Nachbarschaft
Veröffentlicht am 26.09.2019 von Christian Hönicke

Reinhard Weißhuhn war eine prägende Figur in der friedlichen Revolution in der DDR.
Der Architekt aus Prenzlauer Berg war Mitbegründer und Pressesprecher der Initiative für Frieden und Menschenrechte, Mitherausgeber von „Grenzfall“ und „Fußnote“. Als Mitglied von Bündnis 90 in der Volkskammer und im Bundestag arbeitete er aktiv an der Assoziation mit den Grünen mit. Weißhuhn ist einer von knapp 150 Zeitzeugen, die die Künstlerin Karla Sachse für ihr Projekt „Aufbruch 1989 – Erinnern 2019“ interviewt hat.
Noch bis zum 9. November weisen in ganz Pankow Bodenzeichen auf die (damaligen) Wohn- und Arbeitsorte der von Sachse Interviewten hinweisen. Per QR-Code fürs Smartphone wird man auf die Webseite „Aufbruch 1989 – Erinnern 2019“ geleitet, wo die Interviews angehört werden können. Wir veröffentlichen an dieser Stelle bis zum Jahrestag regelmäßig Erinnerungen von Zeitzeugen:
„Ich bin Reinhard Weißhuhn und ich gehörte seit ihrer Gründung Ende 1985, Anfang 1986 zur Initiative für Frieden und Menschenrechte, kurz IFM. Einer Gruppe, die sich ausdrücklich als politisch unabhängig von der Kirche und als politische Opposition verstand. Diese Gruppe bestand auch noch im Herbst 1989, saß auch am Runden Tisch und war eine der Gründungsgruppen für das Bündnis 90.
Damals war ich Architekt beim Projektierungsbüro des Diakonischen Werkes. Also einer im weitesten Sinne kirchlichen Einrichtung, weil ich in der staatlichen Sphäre kein Bein mehr auf den Boden bekommen hatte.
Offen gestanden, war ich nicht sehr optimistisch, was die Entwicklung der DDR angeht. Ich hatte keine großen Erwartungen. Und ich wundere mich auch, dass viele heute glauben sagen zu können, sie hätten gewusst, gesehen und erwartet, dass die DDR zusammenbräche. Ich kenne von damals niemanden, der das so gesehen hat – mich eingeschlossen.
Was wir gemacht haben, haben wir aus Prinzip gemacht – nicht, weil wir der Meinung waren, wir würden die DDR stürzen können. Diese fehlende Veränderungserwartung fing an sich zu ändern im September und Oktober 1989. Im Grunde genommen mit dem entscheidenden Tag – dem 9. Oktober 1989. Als in Leipzig die Montagsdemo war und nicht geschossen wurde, obwohl das angekündigt und erwartet worden war.
Das war der Tag, an dem wir gesiegt haben. Das bedeutete, dass jetzt Veränderungen unausweichlich möglich waren und wir Einfluss darauf nehmen konnten. Und so war das dann ja auch eine ganze Weile – und mit einer ganzen Weile meine ich: ein paar Monate.
Als die Mauer gefallen war, war mir und anderen sofort klar: Jetzt kommt der Westen. Wir konnten natürlich nicht genau voraussehen, was das bedeuten würde, wie weit das gehen würde und in welchem Tempo. Uns blieb eigentlich nur übrig, in der verbleibenden Zeit aufzubauen, was aufzubauen war.
Der Runde Tisch war eines dieser Instrumente, einen halbwegs geordneten Zusammenbruch des SED-Staates und das Zustandekommen eines demokratisch verfassten Staates hinzukriegen. Das war eine ziemliche Herausforderung, zumal auch wir uns nicht alle einig waren.
Eines der größten Probleme war, dass nicht nur der Staat am Zusammenbrechen war, sondern auch die Gesellschaft nicht mehr existierte. Diese Gesellschaft musste völlig neu aufgebaut werden, das war wie eine Psychotherapie. Meiner Meinung nach ist es das bis heute.
Unser Defizit in der DDR bestand im Wesentlichen in den politischen und bürgerlichen Rechten. Die mussten geübt und eingeübt werden, der Umgang damit gelernt. Das war das A und O.
Man kann eine Demokratisierung sinnvoll nur betreiben, wenn man hinreichend emanzipierte Aktivisten hat. Davon gab es viel zu wenige. Das hat die Selbstdemokratisierung der DDR behindert und letzten Endes auch erledigt. Stattdessen gab es den Unterschlupf unter die dicken Männer mit den Schlipsen.
Ohne eine emanzipierte Gesellschaft ist Demokratie nicht lebbar. Oder sie wird populistisch verzerrt. Der Erfolg der AfD ist ein plastisches Zeichen dafür, dass die Gesellschaft weit weniger emanzipiert ist, als sie sein sollte, um aus der Demokratie etwas Sinnvolles zu machen.
Dazu braucht man politische Bildung, oder Bildung überhaupt. Dazu gehört nicht nur Lesen und Schreiben lernen, sondern Horizonterweiterung in jedem Sinne. Das ist ein sehr langwieriger Prozess. Ich glaube schon, dass man an der Verfasstheit der Gesellschaften in Westdeutschland und in Ostdeutschland den Unterschied, den Effekt eines solchen Prozesses und das Defizit mangels eines solchen Prozesses immer noch deutlich erkennen kann.“
Das Foto oben zeigt übrigens die erste vom Volk ausgehende genehmigte Demonstration in der DDR – am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz. Fotocredit: picture alliance/dpa – Text: Christian Hönicke
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