Nachbarschaft

Veröffentlicht am 22.10.2020 von Constanze Nauhaus

Auf ein „Rotkäppchen“ am Vormittag in die „Bornholmer Hütte“: Seit 1904 gibt es die Kneipe in der Bornholmer Straße, 1954 übernahm sie der Vater von Matthias Gehrhus. Der führt sie heute, Eva Mramor unterstützt ihn dabei. Tagsüber kommt die angerauchte Patina an den Wänden noch besser zur Geltung – gestrichen wurde das letzte Mal 1973. Dank der teilweise jahrzehntelangen Treue vieler Stammgäste kam der Laden bislang halbwegs durch die Corona-Krise – die Frage ist, wie lange noch.

Wie geht es euch gerade?
Eva Mramor
: Gesundheitlich super, danke der Nachfrage. Und ansonsten warten wir ab, was noch passiert. Die Zahlen steigen. Die meisten Gäste haben Verständnis dafür, dass wir um 23 Uhr schließen – trotzdem haben immer wieder einige Diskussionsbedarf.
Matthias Gehrhus: Ich muss seit drei Monaten jeden Abend mindestens zehn Leuten erklären, was gerade in der Welt passiert!
EM: Von allein gehen die wenigsten. Denen fällt dann um 22:58 ein, „Ach ja, ich hätte ja gern noch was zu trinken“. Ständig wird diskutiert: „Seht ihr das wirklich so streng mit der Maske? War denn überhaupt schon mal jemand da vom Amt? Wie hoch ist die Chance? Wenn die reinkommen, kannste uns doch schnell Bescheid sagen, dann teilen wir uns auf zwei Tische auf.“ Und so weiter und so fort. Es gibt aber Vorschriften, an die wir uns halten. Das verstehen manche nicht.

Aber die Leute müssten sich doch über die Konsequenzen im Klaren sein? Im Zweifelsfall schließt ihre Stammkneipe.
EM
: Das haben die nicht auf dem Schirm. Die diskutieren auch schon beim Kontaktformular herum, das bringen wir ja jedem extra gleich mit der ersten Bestellung an den Tisch: „Ich füll das später aus“, kommt dann.
MG: Und dann sag ich, „Nein, du füllst das jetzt aus. Sonst nehm ich das Bier hier wieder mit, und da ist übrigens die Tür.“ Ich meine, Maske auf, Armlänge Abstand, Hände waschen. Ist das so schwer? Anscheinend schon, wir haben jetzt wieder Küchenpapier-Überschuss im Klo.
EM: Stimmt, du hast recht! Wir brauchen wieder weniger Trockenrollen. Ich war am Anfang, als wir wieder aufhatten nach dem Lockdown, zwei Mal abends auffüllen, weil Hinz und Kunz sich 17 Mal am Abend die Hände gewaschen haben. Jetzt lässt das wieder nach.

Wie stemmt ihr die Lage gerade finanziell?
MG
: Wir haben personell alles heruntergefahren. Vorher waren wir hier zu zweit in Vollzeit, dazu drei Teilzeitkräfte und eine Stundenkraft in der Bedienung sowie eine Reinigungshilfe. Jetzt bin ich hier jeden Abend allein.
EM: Aber Matthias ist im Laden wie ein Schießhund.
MG: Ich diskutier halt nicht rum. Das ist der Vorteil an meinen Altkunden: Die sehen, ich bin nur am Rennen, und jammern nicht rum, dass sie endlich ihr Bier haben wollen.

Ob Sperrstunde oder nicht, ist für euch vermutlich egal, solange das Alkoholausschankverbot bleibt? Mit Tee muss man hier ja nicht anfangen.
EM
: Genau. Und ich hör die Leute jetzt schon: „Dann buch‘ mir doch was anderes in die Kasse.“ Nein! Die Sperrstunde ändert das Verhältnis zu den Gästen, die Leichtigkeit ist weg: Man macht den Laden nicht mehr mit diesem gespannten Gefühl auf, mal sehen, was heute passiert, wer als erstes durch die Tür kommt, ich freu mich schon. Es ist eine extrem unangenehme Situation, die Leute zum Gehen aufzufordern. Halb elf ist letzte Runde, ab dann muss Matthias Kindermädchen spielen. Die beste Antwort auf den Bußgeld-Hinweis bisher war: „Ach komm, wir teilen uns das dann mit euch.“ Geht’s noch?
GM: Aber ich finde die Sperrstunde trotzdem sinnvoll. Dann muss die Gesellschaft schneller umdenken, die gehen dann halt nach Hause.
EM: Ja, und trinken da auf engem Raum mit ihren Freunden weiter. Ich find’s Quatsch. Matthias, mal ehrlich, wie viele Lokale in Berlin waren in einen Corona-Skandal verwickelt? Es gibt in jeder Branche schwarze Schafe.

Bringen denn die Corona-Hilfen was?
EM
: Ja, um kurzfristig ein Loch zu stopfen. Von 20.
GM: Aber ohne die Hilfen und auch die Spenden aus dem Kiez hätten wir einen Schuldenberg für die nächsten zehn Jahre angehäuft.
EM: Das stimmt. Wir haben so viele Spenden bekommen, einfach von Stammgästen, über Kneipenretter. Ich bin davon so gerührt, von dieser Unterstützung.

Und wie lange könnt ihr das noch so durchziehen?
MG
: Bis ans Ende der Zeit. Oder sonst komplett auswandern.
EM: Das würde er nie aushalten. Matthias ohne den Laden ist völlig undenkbar. Da würde ein Teil von ihm komplett zugrunde gehen. Wir ziehen das jetzt zusammen durch. Ich wusste ja immer, worauf ich mich einlasse.

Und wer die Hütte unterstützen möchte?
MG: Soll einfach einmal mehr kommen als er sonst kommt.

Foto: Constanze Nauhaus

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