Nachbarschaft

Veröffentlicht am 05.11.2020 von Christian Hönicke

Torsten Kühne ist als Bezirksstadtrat in Pankow unter anderem für das Gesundheitsamt und die Schulen zuständig. Der CDU-Politiker spricht im Interview über rasant steigende Corona-Zahlen, die Personal- und Büronot bei der Nachverfolgung und Widersprüche gegen Quarantäne-Anordnungen.

Herr Kühne, wie ist die Auslastung Ihres Gesundheitsamts angesichts der stark gestiegenen Corona-Infektionszahlen aktuell? „Wir haben, wie auch die anderen drei östlichen Bezirke, zwar im Vergleich zum Berliner Durchschnitt niedrigere Fallzahlen. Dennoch sind wir bei einem Niveau angekommen, wo es an die Leistungsgrenze des Gesundheitsamts und darüber hinaus bei der Kontaktnachverfolgung geht.“

Eine Hauptaufgabe des Gesundheitsamts ist die Ermittlung der Kontaktpersonen von Positivfällen und die Anordnung der Quarantäne. Kommen Sie da noch hinterher? „Die Eingabe der Positivfälle versuchen wir immer noch tagesaktuell hinzukriegen.“

Aber die positiv Getesteten sollen ihre Kontakte nun selbst informieren und in Quarantäne schicken. „Ja. Das ist eine berlinweite Strategieanpassung mit stärkerer Prioritätensetzung. Die höchste Priorität bei der Kontaktpersonennachverfolgung haben für uns Pflegeeinrichtungen, medizinische Einrichtungen, Schulen und Kitas – eben dort, wo es Risikogruppen gibt oder es von besonderem Interesse ist, dass diese Einrichtungen weiter funktionieren können. Das heißt dann natürlich, dass der Reiserückkehrer sich hinten anstellen muss, weil wir das nicht mehr alles tagesaktuell schaffen. Deshalb haben alle Bezirke jeweils eine Allgemeinverfügung erlassen, dass die Betroffenen nicht auf den Anruf des Gesundheitsamts warten müssen, sondern sich selbst in Quarantäne begeben und die direkten Kontaktpersonen selbst über die Notwendigkeit einer Quarantäne informieren sollen.“

Geben die Behörden damit nicht ihre Verantwortung an die Bürger ab? „Nein. Bei uns kann es ohnehin bis zu drei Werktage dauern, dass wir bei einem übermittelten Positivfall alle Kontaktpersonen ermittelt haben. So soll die Meldekette beschleunigt werden, damit kein Zeitverzug entsteht und die Kontaktperson sich sofort in Quarantäne begibt. Angesichts der zu schnell steigenden Fallzahlen ist hier mehr Eigenverantwortung der Bürger*innen notwendig.“ [Der Text stammt aus dem aktuellen Pankow-Newsletter. Den können Sie hier kostenlos bestellen: leute.tagesspiegel.de]

Ist es nicht heikel, dass die Kontaktpersonen in der Zwischenzeit die Quarantäne ihrem Arbeitgeber gar nicht rechtsverbindlich kommunizieren können? „Das Infektionsschutzgesetz regelt bereits, dass Positivfälle und direkte Kontaktpersonen sofort in Quarantäne müssen. Dazu braucht es nicht noch einmal eines besonderen Schreibens. Das brauche ich nur, um an Lohnfortzahlung oder Entschädigungszahlen zu kommen – aber nicht um die Quarantäne anzutreten. Dafür muss ich nur wissen, dass ich Kontaktperson bin. Und wir schicken dann hinterher den entsprechenden Bescheid, dass man auch etwas Schriftliches in der Hand hat.“

Und wenn der Arbeitgeber zwischenzeitlich dennoch auf Dienstantritt besteht? „Natürlich muss es hier ein gewisses Grundvertrauen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer geben. Das muss der Arbeitgeber dann erstmal glauben. Das ist analog zur telefonischen Krankschreibung einfach dem aktuellen Infektionsgeschehen geschuldet. Das Ziel ist ja, wieder auf Inzidenzzahlen unter 50 zu kommen, damit das wieder geordneter funktioniert und die Gesundheitsämter das wieder selbst machen können.“

Die Kontaktpersonennachverfolgung wird also nicht schleichend aufgegeben? „Nein, da denken wir nicht mal dran. Doch umso stärker die Fallzahlen steigen, umso stärker müssen wir priorisieren. Wir konzentrieren uns auf Cluster in Einrichtungen, potenzielle Hotspots, nicht mehr so auf Einzelfälle. Wir arbeiten das ab, was wir schaffen. Aber mehr als Überstunden machen können die Kolleginnen und Kollegen auch nicht. Ein Problem dabei ist, dass die Nachfragen und Diskussionen mit den Menschen zunehmen.“

Viele wollen die Quarantäne nicht akzeptieren? „Es wird nicht mehr so widerspruchslos akzeptiert wie noch im Frühjahr. Wir reden hier zwar über eine Minderheit, aber die tritt sehr aggressiv auf und hinterfragt die Maßnahmen oder widersetzt sich ihnen. Da wird Anordnungen widersprochen, es wird nachgehakt, ob das wirklich notwendig ist. Ich bin ja auch für Schule zuständig und kriege regelmäßig Mails, dass ich dort die Maskenpflicht auszusetzen habe. Dass dieses angebliche Virus gar nicht so gefährlich ist. Diese Dinge nehmen zu, das gab es im Frühjahr nur in Ausnahmefällen. Das bestätigen auch andere Bezirke.“

Kann man gegen einen Quarantänebescheid Widerspruch einlegen? „Selbstverständlich, wie gegen alle Verwaltungsakte. Einige legen auch tatsächlich Widerspruch ein, weil sie der Meinung sind, das war doch gar nicht so ein enger Kontakt. Oder ihr Test sei doch negativ, damit hätten sie sich doch freitesten lassen. Das stimmt aber nicht, auch bei einem negativen Test muss man als Kontaktperson in Quarantäne bleiben. Man kann sich hier nicht freitesten. Einige verwechseln das offensichtlich mit den Reiserückkehrern.“

Kriegen Sie auch positive Reaktionen? „Natürlich, glücklicherweise. Viele Bürger bedanken sich für die Betreuung und das schnelle Reagieren. Aber hängen bleiben natürlich leider meist die negativen Reaktionen, vor allem die etwas unfreundlichen Telefonate.“

Wie sieht die Personalsituation im Pankower Gesundheitsamt aktuell aus? „Direkt in der Kontaktpersonennachverfolgung haben wir mehr als 120 Stellen. Darunter sind Kollegen der Bundeswehr und vom Robert-Koch-Institut und Studierende. Da gibt es eine Fluktuation, derzeit sind es etwa 60 externe Kräfte. Es kommt stetig Nachschub, inzwischen auch durch Personal auf Landesebene oder auch Bundesbehörden. Im Moment steigen die Fallzahlen sehr schnell. Wenn das dauerhaft so weitergeht, kommen wir irgendwann nicht mehr hinterher. Wir gehen davon aus, dass sie noch mindestens zwei Wochen steigen werden, bis die jetzigen Lockdown-Maßnahmen hoffentlich greifen. Wir müssen also den November kurzfristig überbrücken. Wir können dabei pro Woche maximal 20 neue Mitarbeiter schulen und einarbeiten. Dennoch ist das Personal derzeit das geringere Problem, die Raumfrage ist unsere größte Herausforderung.“

Der Platz reicht nicht mehr? „Unsere Hauptstandorte sind das Gesundheitsamt in der Grunowstraße und das Rathaus in der Breiten Straße. Da sind alle Räume ausgequetscht, mittlerweile auch im Ratskeller. Wir suchen deswegen neue Büros. Aber wir brauchen nicht irgendwelche Räume, sie müssen auch geeignet sein.“

Was sind die Anforderungen? „Sie müssen in der Nähe des Rathauses und des Gesundheitsamtes in Alt-Pankow liegen. Eine dezentrale Kontaktpersonenermittlung ist sehr, sehr schwierig – man braucht direkten Kontakt der Mitarbeitenden untereinander. Außerdem müssen die Räume an das Landesnetz Berlin und unser Intranet angebunden werden. Einfach nur Telefone und Rechner mit irgendeinem Internetanschluss reichen nicht. Deswegen sind landes- oder bezirkseigene Räumlichkeiten am besten. Wir sind gerade dabei, in der Volkshochschule in der Schulstraße und in der Korczak-Bibliothek am Bahnhof Pankow Arbeitsplätze einzurichten. Außerdem schauen wir, ob Kollegen von anderen Ämtern zusammenrücken können, damit dort noch Platz geschaffen wird. Parallel versuchen wir, Räume extern anzumieten.“

Der Immobilienmarkt in Pankow ist angespannt. „Es gibt ein Objekt am Bahnhof Pankow, das wir aktuell im Auge haben. Allerdings dürfen wir nur Flächen unter 1000 m² wegen der Landesvorgaben eigenmächtig anmieten. Da dürfte es Platz für 16 Mitarbeiter geben. Aber auch diese Räume müssen dann angeschlossen werden, das dauert sicher ein paar Wochen.“ – Text: Christian Hönicke / Foto: promo

+++ Diesen Text haben wir dem neuen Tagesspiegel-Newsletter für Berlin-Pankow entnommen. Den gibt es in voller Länge und kostenlos hier: leute.tagesspiegel.de

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