Nachbarschaft
Veröffentlicht am 13.01.2022 von Christian Hönicke

Susanne Willems ist Historikerin mit Stadtplanungs-Expertise. Sie hat mit ihrem Buch „Der entsiedelte Jude. Albert Speers Wohnungsmarktpolitik für den Berliner Hauptstadtbau“ die Beteiligung Albert Speers an den Völkermordverbrechen gegen die europäischen Juden offengelegt. Ihre Forschungs- und Lehrgebiete sind die deutsche Sozial-, Wirtschafts- und Rechtsgeschichte.
Willems lebt zwar in Treptow-Köpenick, aber was sie nun zu sagen hat, ist auch und gerade für Menschen in Pankow von Relevanz: Sie hält nach eingehenden Recherchen die Nachverdichtungspraxis im gesamten Ostteil Berlins für rechtswidrig – und fordert den Senat und das Abgeordnetenhaus zu einer Prüfung der Rechtslage auf.
Frau Willems, sind Sie selbst von der Nachverdichtungspraxis im Ostteil Berlins betroffen?
Ich habe mich beteiligt an der Bürgerinitiative „Kietzer Feld und Wendenschloß“. Ich sehe hier jeden Tag, wie ein DDR-Wohngebiet mit unpassenden Fünfgeschossern zugestellt wird. Ich war auch beim Bündnis Nachhaltige Stadtentwicklung involviert. Die Recherchen zur Rechtslage 1990/91 betreibe ich als promovierte Historikerin. Ich bin spezialisiert auf vergleichende Rechtsgeschichte, meine Promotion habe ich zum Thema Stadtumbau in Berlin unter Albert Speer abgelegt. Zurzeit unterrichte ich an der Hochschule für Wirtschaft und Recht.
Was haben Ihre Recherchen zum Thema Nachverdichtung ergeben?
Es gibt eine signifikante Ungleichstellung von Bauvorhaben im Osten und im Westen Berlins. Weite Teile des Ostberliner Stadtgebietes werden als unbeplanter Innenbereich behandelt. Sie dürfen nach dem „Lückenschluss“-Paragraf 34 des Baugesetzbuches (BauGB) ohne verbindliche Bauleitplanung verdichtet werden. Die Annahme, auf die Bezirke und Senat diese Behauptung stützen, ist, dass zum 1. Juli 1991 alle Bebauungsplanungen aus dem Jahrhundert vorher im Osten der Stadt rechtlich untergegangen seien. Und zwar, weil sie nicht ausdrücklich durch die Bezirksvertretungen oder das Abgeordnetenhaus bestätigt worden seien. Diese Annahme zur Rechtslage ist falsch.
Woher nehmen Sie diese Gewissheit?
In West-Berlin galt nach dem Bundesbaugesetz ab 1986 das BauGB. Nach diesem bleiben alte Planungen erhalten, und verbindliche Bauleitplanungen schließen die Bebaubarkeit nach Paragraf 34 aus. Wenn es also Bebauungspläne gibt, müssen diese geändert oder durch gleichrangige B-Pläne ersetzt werden.
Und im Osten?
Es steht außer Zweifel, dass B-Pläne für die Wohngebiete existieren, die zu DDR-Zeiten errichtet wurden. Diese würde man heute als vorhabenbezogene B-Pläne qualifizieren, in öffentlich-staatlicher Partnerschaft. Streitig ist, ob diese noch immer rechtliche Relevanz haben.
Sie sagen: ja.
Richtig. In diesen Wohngebieten können nur Veränderungen vorgenommen werden, wenn wie vorgesehen B-Pläne aufgestellt oder beachtet werden.
Warum bestreiten die Berliner Behörden dies dann?
Die Verwaltungen beziehen sich auf einen Überleitungsparagrafen im Baugesetzbuch vom 3. Oktober 1990. Dieser verweist auf Regeln einer Bauplanungs- und Zulassungsverordnung (BauZVO), die in der DDR am 30. Juli 1990 in Kraft gesetzt worden ist. Zwar ist diese Übergangsregelung im restlichen Gebiet der damaligen DDR tatsächlich in Kraft getreten. Im Gebiet der Stadtbezirke von Berlin konnte diese jedoch keine Geltung mehr erlangen.
Warum nicht?
Die Ermächtigung für den Erlass der BauZVO war im Kommunalverfassungsgesetz der DDR geregelt. Dieses war in Berlin jedoch nicht mehr anwendbar, weil es durch die Verfassungsgebung für die Stadtbezirke schon am 23. Juli 1990 außer Kraft getreten war. Auf diese Rechtslage kommt es an für die Frage, ob die vorhabenbezogenen B-Pläne im Osten Berlins heute rechtliche Geltung haben.
Welchen Hintergrund hatte es überhaupt, dass man Bebauungspläne aus DDR-Zeiten auslaufen lassen wollte?
Man wollte Wohnanlagen, die in den 1980er Jahren noch verdichtet wurden, teilweise wieder rückbauen. In Wohngebieten in Dresden, Leipzig oder Halle wurden in der DDR damals geplante gesellschaftliche Einrichtungen immer wieder zurückgestellt. Stattdessen wurden die Gebiete monofunktional immer weiter mit Wohnungen verdichtet. Dies wollte man nach der Wiedervereinigung ohne Neuaufstellung eines B-Plans zurückbauen können. Das Ziel dieser Sonderregel war also das Gegenteil der heutigen Praxis. Das kann passieren, wenn man Recht setzt, dass sich die Nutzungsmöglichkeiten ändern.
Die „Bürgerinitiative Vesaliuskiez“ in Pankow fordert von Bausenator Andreas Geisel (SPD) nun eine Veränderungssperre, um diese „unkontrollierte Verdichtung“ im Ostteil Berlins zu stoppen. Direkt nebenan wurde die Nachverdichtung der Wohnanlage am Schlosspark Schönhausen durch einen B-Plan des Bezirks gestoppt.
Das war ein beispielhafter Erfolg, aber leider nur ein Einzelfall. Woanders wird weiter nach Paragraf 34 verdichtet. Das gilt ja nicht nur für die Wohngebiete und Großsiedlungen, die nach 1949 neu erschlossen worden sind. Das gilt auch für die Gründerzeitviertel und die Großsiedlungen aus der Weimarer Zeit.
Im ganzen Ostteil Berlins ist fast jede grüne Hoffläche in Gefahr?
Ja, durch die aktuelle Praxis. Der erste Punkt, der für Nachbarschaften relevant wird, tritt dabei schon vor der Baugenehmigung ein. Wenn ein Grundstück nach Paragraf 34 bebaubar ist, muss eine Ausnahmegenehmigung für Baum- und Artenschutz erteilt werden. Weil dem Eigentümer nicht zuzumuten ist, die Bäume stehen zu lassen. Gestützt wird diese Praxis durch die landeseigenen Wohnungsunternehmen oder die Genossenschaften. Sie planen lieber im stillen Kämmerlein maximale Bauvolumen nach dem Flächennutzungsplan, ohne Beteiligung der Öffentlichkeit. Das entspricht aber nicht der Rechtslage. Die Grünflächen, die bebaut werden sollen, sind ja keine Verlegenheitslücken, die freigeblieben sind, weil damals das Baumaterial ausgegangen ist.
Sondern?
Es sind geplante und planvoll angelegte öffentliche Grünflächen und Wohngrün, wie die offizielle Bezeichnung heißt. Sie sind genauso wie die angelegten Straßen und Wege oder Baufluchtlinien im Wohngebiet in B-Plänen exakt festgelegt worden. Diese Pläne sind formal durch das Baugesetzbuch überführt worden, und zwar uneingeschränkt. Wie in den Bezirken im Westteil der Stadt auch.
Warum werden sie dennoch im Osten nicht mehr angewendet?
Das ist jetzt keine rechtliche Einordnung, sondern eine historisch-politische: Weil es vor 30 Jahren der Senatsbauverwaltung gelegen kam, zuerst in der Mitte Berlins keine entgegenstehenden B-Pläne für ihre Bauvorhaben zu haben. Man kann auch sagen: Die haben nicht richtig hingeschaut. Das spielt aber keine Rolle, denn es kommt auf die objektive Rechtslage an. Zu behaupten, ohne eine entsprechende Ermächtigung im Gesetz hätte eine Verordnung Gültigkeit erlangt, ist jenseits der rechtsstaatlichen Vorgaben.
Was wollen Sie nun tun, um diese Praxis zu ändern?
Ich selbst kann zur Durchsetzung der Rechtslage wenig bis nichts tun. Ich habe jedoch damalige Kommentatoren des Berliner und Bundesbauplanungsrechts befragt. Und genau das sollte auch die Senatsverwaltung tun: Sie sollte die Rechtslage zum Gegenstand einer Prüfung machen. Wenn die vielen promovierten Juristen der Senatsverwaltung dafür keine Kapazitäten haben, muss man externe Gutachten in Auftrag geben.
Bausenator Geisel sieht keinen Anlass für eine solche Prüfung. Für ihn gilt Paragraf 34 in weiten Teilen Ost-Berlins uneingeschränkt.
Es gibt ja nicht nur den Senator, sondern auch Abgeordnete.
Das Abgeordnetenhaus soll in dieser Angelegenheit einschreiten?
Ja. Parlamentarier können etwa dafür sorgen, dass der Stadtentwicklungsausschuss eine entsprechende Anhörung von Experten des Bauplanungsrechts durchführt. Es sind immerhin fast 80 Wohngebiete, die im Osten Berlins allein durch die landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften von Nachverdichtung betroffen sein werden. Das muss auf Rechtssicherheit geprüft werden, wie das in einem Rechtsstaat üblich ist.
Können Bewohner oder Anrainer nicht gegen diese vermeintlich unrechtmäßige Praxis klagen und so einen Präzedenzfall schaffen?
Nicht wirklich. Die planungsrechtliche Entscheidung der Bebaubarkeit nach Paragraf 34 wird von den Bezirksämtern nicht als Verwaltungsakt ausgefertigt und den Anrainern zugestellt. Es wird behauptet, dass dies eine informelle und interne Angelegenheit sei. Das wird vorsätzlich gemacht: Diese Entscheidung wäre dann im Widerspruchsverfahren für maximal 700 Euro nach der Berliner Kostenverordnung angreifbar. Der Anrainer kann derzeit tatsächlich erst die erteilte Baugenehmigung angreifen.
Und warum wird das so selten getan?
Weil man dann Kosten von 0,26 Prozent des Bauvolumens tragen müsste. Je nach Größe des Bauvorhabens sind das viele zehntausend Euro. Bei den 170 Wohnungen des ersten Bauabschnitts im Kietzer Feld waren das mehr als 80.000 Euro. Ich habe noch keinen Anrainer getroffen, der dieses Risiko privat tragen will.
Was ist mit den Naturschutzverbänden – die klagen doch gern gegen Bauprojekte?
Bei B-Planverfahren haben sie in Berlin in der Tat ein Klagerecht. Bei Paragraf 34 aber sind auch sie hilflos, weil sie gar nicht erst beteiligt werden und damit als Vertreter von Interessen der Öffentlichkeit ausfallen. Wenn man einklagen könnte, dass die Verwaltung rechtsstaatlich zu handeln hat, hätte ich längst das Verfassungsgericht bemüht. Aber auch das geht nicht, weil das Baugesetzbuch als Recht von Privaten gegenüber der Verwaltung formuliert ist.
Senator Geisel hat dennoch erklärt, die Nachverdichtungspraxis im Ostteil sei durch die ständige Rechtsprechung der Gerichte bestätigt worden.
Das ist nicht wahr. Es gibt bisher keine Rechtsprechung, die die Frage der Rechtslage in den Berliner Stadtbezirken 1990/91 thematisiert hätte. Das läuft jetzt 30 Jahre aufgrund einer falschen Auffassung der damaligen Rechtslage so, und bisher ist niemand rechtlich dagegen vorgegangen.
Gilt hier nicht sowieso schon das Gewohnheitsrecht?
Darauf können sich nur Bürger berufen. Verwaltungen können sich nicht auf das Gewohnheitsrecht rechtswidriger Verwaltungspraktiken berufen. Das ist übrigens nicht nur eine Rechtsfrage.
Wie meinen Sie das?
Es darf nicht sein, dass innerhalb einer Stadt für bestimmte Bezirke andere baurechtliche Vorgaben gelten als für andere. In Neukölln gibt es nach Auffassung des Senats ein anderes Planungsrecht als im benachbarten Treptow. Das ist so, als würde der Grüne Pfeil nur auf den Straßen im Osten Berlins gelten. Hier muss zwingend eine Angleichung herbeigeführt werden. Die Verfassungsgebung durch die Stadtverordnetenversammlung von Berlin hat tatsächlich Anfang Juli 1990 dafür gesorgt, dass gleiches Recht für alle Berliner gilt. Das war auch der Sinn dieser Verfassung. Nur die Senatsbauverwaltung hat bis heute eine andere Auffassung. / Foto: Kappa Foto
Wer soll hier als nächstes vorgestellt werden? Sie selbst? Jemand, den Sie kennen? Wir freuen uns auf Ihre Vorschläge unter: leute-c.hoenicke@tagesspiegel.de