Intro

von Gerd Appenzeller

Veröffentlicht am 18.07.2018

In praktisch allen Berliner Bezirken gibt es Blogs, auf denen sich Menschen über das Internet zu alltäglichen Dingen austauschen und informieren. Man sieht Fotos schöner Landschaften, liest in der Rubrik Gesucht/Gefunden, was jemand zu verkaufen oder verschenken hat, was ein anderer braucht. Veranstaltungen vom Kitabasar bis zum Trödelverkauf werden angekündigt. Die Blogs sind richtig gute Nachbarschaftsportale.

Aber seit einigen Monaten spüre ich bei einigen eine Veränderung der Thematik und der Tonlage. Manche Beiträge werden polemischer, das Vokabular lässt auf AfD-Nähe der Verfasser schließen. Das ist nicht mein Stil, aber im Rahmen der demokratischen Auseinandersetzung  hinzunehmen. Problematisch wird es, wenn Behauptungen und Zuschreibungen auftauchen, für die es keine Belege gibt. Wer nicht „deutsch“ aussieht, ist ein „Merkelmann“, also ein Flüchtling oder Zufluchtsuchender. Zukünftige Bewohner einer Unterkunft im Märkischen Viertel sind „Merkelgäste“. Ein auf frischer Tat von der Polizei ertappter junger Mann erhält das Etikett, man sehe ja schon, woher der komme. Wenn gegen solche Pauschalurteile argumentiert wird, verschwinden diese anderen Meinungen schnell… Und es gibt immer wieder Vermutungen über Straftaten, von denen die Presse aus mysteriösen Gründen nicht berichte.

Dass ich als Journalist das nicht nur lesen, sondern dringend darauf reagieren sollte, wurde mir bei diesem Userkommentar klar: „Nur mal so zur Info: Gestern Abend wurde der Kiosk in der Titiseestraße überfallen… und kurz darauf wohl auch die Hem-Tankstelle am Zabel-Krüger-Damm…auch nur komisch, dass nirgends eine Zeile darüber zu lesen ist.“ Die Unterstellung, die Medien hätten da etwas unterdrückt, fällt auf fruchtbaren Boden. Wenig später lese ich diesen User-Kommentar: „Wie läuft denn so eine Vertuschung ab? Kommt dann der Kontaktbereichsbeamte zum Reporter eines Käseblatts und sagt dem: Bitte berichten Sie nicht darüber? Sie wollen doch keinen Ärger! Oder ruft der Innensenator beim Verlag an?“ Und ein anderer schreibt: „Die Tankstelle wird doch beinahe jeden Tag überfallen…“

Ich stutzte. Ja, warum war darüber nichts zu lesen? Zu spät für den Redaktionsschluss?  Ich schaute im Polizeibericht. Da stand auch nichts. Merkwürdig. Ich rief bei der Pressestelle der Polizei an – und erfuhr, dass längst nicht alle gravierenden Straftaten auch im Polizeibericht auftauchen – es seien einfach zu viele, auch im Tatsegment Raubüberfälle. Ob jemand verletzt wird, ob eine Waffe eingesetzt wird, das seien Kriterien für die Aufnahme der Tat in den Pressespiegel.

Laut Kriminalstatistik 2017 gab es im abgelaufenen Jahr in Berlin:

49 Raubüberfälle auf Spielhallen

42 Raubüberfälle auf Tankstellen

9 Raubüberfälle auf Geldinstitute und Postfilialen und Agenturen

468 Raubüberfälle auf Geschäfte und „sonstige Zahlstellen“ – dazu zählen Kioske.

48,9 Prozent der Tatverdächtigen hatten nicht die deutsche Staatsangehörigkeit.

Den Überfall auf den Kiosk in der Titiseestraße hat es tatsächlich gegeben, wie meine Nachfrage ergab, natürlich hatte die Polizei dazu einen Bericht, er war nur nicht veröffentlicht worden: Drei maskierte Männer betraten am 6. Juli um 17.30 Uhr stumm das Geschäft und bedrohten die Angestellte. Einer der Täter griff in die Kasse, die drei Täter entkamen in Richtung Schluchseestraße. Auf das Jahr 2017 übertragen, wäre diese Überfall also einer von 468 gewesen – in Waidmannslust aber war es genau der eine, über den man etwas in der Zeitung lesen wollte und nichts fand.

Von einem Überfall auf eine Tankstelle weiß die Polizei nichts. Weder auf die Tankstelle am Zabel-Krüger-Damm, noch auf eine andere Hem-Tankstelle an der Berliner Straße, noch auf eine dritte. Man kann davon ausgehen, dass es ihn nicht gab, denn dass überfallenes und beraubtes Personal einer Tankstelle nicht die Polizei ruft, ist unwahrscheinlich.

Wir stellen fest: Die Zeitung hat die Meldung über den Kioskraub nicht unterdrückt, sie wusste davon einfach nichts. Und: Der Überfall auf die Tankstelle war wohl „Fake News“, ein böses Gerücht, dass die Menschen verunsichern könnte. Mich hat der Vorgang auch aus einem anderen Grund nachdenklich gestimmt: Ohne dass ich damit Misstrauen gegenüber der Pressearbeit der Polizei ausdrücken will (ich habe keinen Grund dazu), empfinde ich es als unbefriedigend, dass die Polizeipressestelle für mich eine Vorauswahl dessen trifft, was berichtenswert sein könnte. Begründet wird das übrigens mit Personalmangel, eine Kollegin sagt mir, dann bräuchte die Pressestelle 20 Mitarbeiter mehr, wenn jedes relevante Delikt als Pressemeldung formuliert werden solle.

Alarmierend ist, wie sich aus einer nicht veröffentlichten Nachricht über einen Kiosküberfall eine Kette von Mutmaßungen ergibt. Das Beispiel zeigt, dass hier jemand eine wahre Nachricht mit einer erfundenen vermischt hat. Das – gewollte? – Ergebnis ist Verunsicherung:  Die „da oben“, die Zeitungen eingeschlossen, sagen uns nicht die Wahrheit. Was verbergen sie noch alles vor uns, den einfachen Bürgern?

Das werden Sie beim Tagesspiegel nicht erleben, weder in der Zeitung noch in den Newslettern. Wenn Sie selber von schwerwiegenden Straftaten hören, schicken Sie mir bitte eine Mail – ich werde mit Hilfe der Pressestelle der Polizei versuchen, den Sachverhalt aufzuklären, und ich werde darüber berichten. Und wenn Sie selber in einem der Blogs hier im Bezirk aktiv sind – denken Sie bitte vorher darüber nach, ob Sie ein Gerücht, über das man am Stammtisch unter Freunden immer folgenlos reden kann, auch an einen Kreis von weit über 1000 Empfängern eines solchen Nachrichtenkanals weiterleiten sollte. Für das Klima in unserem Land sind wir schließlich alle auch selbst mit verantwortlich.

Gerd Appenzeller, geborener Berliner, ist seit 24 Jahren Mitglied der Tagesspiegel-Redaktion, war Chefredakteur und Herausgeber. Als er 1994 mit seiner Familie in die alte Heimat zurückkam, zog er nach Hermsdorf, denn dort hat er auch seine Kindheit verbracht und dort leben auch sein Bruder und dessen Frau. Wenn Sie Anregungen, Kritik, Wünsche, Tipps haben, schreiben Sie ihm bitte eine E-Mail an leute-g.appenzeller@tagesspiegel.de