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Offener Vollzug für Sicherungsverwahrte macht Anwohnern große Sorgen

Veröffentlicht am 20.11.2019 von Gerd Appenzeller

Offener Vollzug für Sicherungsverwahrte macht Anwohnern in Berlin große Sorgen. Bis zur Jahreswende 2020/2021 soll durch die Justizvollzugsanstalt in Berlin-Tegel an der Seidelstraße ein bisher für Wohnzwecke genutztes, dreistöckiges Haus als Domizil für Sicherungsverwahrte genutzt werden, die als für den offenen Vollzug geeignet gelten. Damit wird eine gesetzliche Vorgabe erfüllt, die in Berlin bereits im Jahre 2013, also unter der damaligen SPD-CDU-Koalition, geschaffen worden war. Die wiederum geht auf eine entsprechende Entschiedung des Bundesverfassungsgerichtes zurück. Darüber, was das für die Bewohner des Kiezes rund um die JVA bedeutet, informierten am Montagabend in einer öffentlichen Veranstaltung sowohl der Leiter, Martin Wiemer, als auch Justiz-Staatssekretärin Daniela Brückner, und die Leiterin der Einrichtung für den Vollzug der Sicherungsverwahrung, Kerstin Becker.

Gekommen waren etwa 100 Frauen und Männer, die in den Häusern rund um die JVA wohnen.

Die Anwohner artikulierten vor allem ihre Sorge, dass durch die Freigänger, die praktisch alle einmal wegen schwerer Sexualdelikte verurteilt worden waren, Gefahren für Kinder und Jugendliche, aber auch für sich alleine auf der Straße bewegende Frauen entstehen könnte. Warum muss so etwas ausgerechnet hier, mitten in einem Wohngebiet entstehen und nicht abgeschieden, etwa in einem Gewerbegebiet, wurde gefragt.

Kein Zweifel blieb daran, dass die Maßnahme selbst als Erfüllung eines gesetzlichen Auftrags zu sehen ist, und weder die  Anstaltsleitung noch die Berliner Politik die Option hätten, diesen offenen Vollzug etwa zu verweigern. In der JVA sind in einem separaten Block 60 Zimmer für Sicherungsverwahrte vorgesehen. Momentan sind dort 48 Gefangene untergebracht. Als Kandidaten für den offenen Vollzug gelten maximal zehn Häftlinge, für mehr wäre in dem vorgesehenen Haus, das sich außerhalb der Gefängnismauern befindet, auch kein Platz. Tatsächlich kommen derzeit nur drei Männer dafür in Frage, sagte Kerstin Becker, die Leiterin der Einrichtung.

Sicherungsverwahrung wird für Straftäter angeordnet, denen auch nach Verbüßung ihrer Haftstrafe ein Hang zu weiteren Straftaten attestiert wird. Im Idealfall, so Kerstin Becker, entwickele sich ein Häftling während der Strafhaft so, dass keine weitere Sicherungsverwahrung nötig sei. Auch in dieser Phase selbst werden Häftlinge psychologisch und medizinisch betreut. In immer weiteren, langsamen Schritten werde ihnen zunächst ein kurzer, ein- oder mehrstündiger Aufenthalt in Freiheit erlaubt, wobei sie anfangs von zwei, später von einem Vollzugsbeamten begleitet werden.

Die drei Männer, die für den offenen Vollzug in frage kommen, sind um 60 Jahre alt. Im Schnitt sind die Sicherungsverwahrten Mitte fünfzig, der älteste Häftling in Tegel ist über 80 Jahre alt. Er gehört zu jener Gruppe, die seit mehr als 18 Jahren in der JVA im Bereich der Sicherungsverwahrung leben. Die Frage, warum die Maßnahme ausgerechnet in Tegel durchgeführt werde, beantworteten sowohl Riemer als auch Becker so: Die Häftlinge seien seit Jahren an das Personal gewöhnt, das sie weiter begleitet. In unmittelbarer Nachbarschaft gibt es die forensisch-therapeutische Ambulanz der Charité, die den Gesundheitszustand der Männer überwacht, wichtig sei auch die gute Anbindung an den ÖPNV, da die Häftlinge mit Freigang so Behördengänge erledigen und sich um Jobs kümmern könnten.

Die Diskussion dauerte etwa eine Stunde, die Informationen der drei Offiziellen am Anfang nahmen etwa eine halbe Stunde an Anspruch. Die Redebeiträge waren leidenschaftlich, aber niemals unsachlich, und vor allem Kerstin Becker äußerte mehrfach Verständnis für die Sorgen der Anwohner. Sie wollte sich auch künftig für Informationen zur Verfügung stellen. Die CDU-Wahlkreisabgeordneten Emine Demirbüken-Wegner und Stephan Schmidt sowie der CDU-Bezirksverordnete Felix Schönebeck stellten am Tag danach in einer Pressemitteilung die Frage, ob nicht ein anderer JVA-Standort mit weniger Menschen in der Umgebung geeigneter gewesen wäre. – Text: Gerd Appenzeller
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