Kiezgespräch
Veröffentlicht am 22.01.2020 von André Görke
Viele Erinnerungen, und eine darf auf keinen Fall fehlen. Sie stammt von Gerd Appenzeller, der in Reinickendorf aufgewachsen ist und den Bezirk und seine Geschichte so gut kennt. Auch er hat sich Gedanken gemacht zum Nazi-Terror, der vor 75 Jahren endete und der heute im Mittelpunkt des Reinickendorf-Newsletters steht. Hier nennt er Gedenkorte, an die er in Reinickendorf erinnern möchte:
„In Reinickendorf gibt es mehrere Erinnerungsorte an die Opfer der NS-Diktatur. Die Gedenkstätten sind, vor allem in Form der Stolpersteine vor bestimmten Häusern, jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern gewidmet, die von hier deportiert und ermordet wurden. Die nachfolgende Aufstellung ist nicht komplett. Reinickendorf ist zwar ein Randbezirk von Berlin, in der NS-Zeit aber wurden hier wie überall Menschen aus rassischen, religiösen oder politischen Gründen verfolgt und ermordet.
Ein besonderes Gedenken ist in der Schulzendorfer Straße 57 in Hermsdorf der „Kindergemeinde Hermsdorf“ und dem Kinderheim Annemarie Wolff gewidmet. Es bestand bis 1933, seine Gründerin, Annemarie Wolff-Richter, wurde 1900 in Breslau geboren, sind kam 1945 im KZ Jasenovac ums Leben. Als junge Frau ließ sich Frau Wolff-Richter zur medizinisch-technischen Assistentin ausbilden, weil sie für ein Medizinstudium nicht über die nötigen Mittel verfügte. Durch einen Kreis um den Nervenarzt Fritz Künkel kam sie zur Heilpädagogik und Individualpsychologie und eröffnete 1926 an der Schulzendorfer Straße die „Kindergemeinschaft Hermsdorf“, in der Kinder erzogen wurden, die „aus sozial schwierigen Verhältnissen (kamen) oder aus linksintellektuellen, kommunistischen oder jüdischen Familien, die der Überzeugung waren, dass das Leben für Kinder in der Gemeinschaft förderlicher (sei) als in einer Kleinfamilie“ (Berliner Morgenpost, 2001). 1927 zog sie nach ihrer Heirat mit dem Jugendpfleger Helmuth Wolff mit den Kindern an die Oranienburger Chaussee. 1933 wurde sie verhaftet, konnte aber nach ihrer Freilassung das Heim zunächst in der Otto-Erich-Straße 10 (Wannsee) weiterbetreiben, bis das Haus 1934 für die HJ beschlagnahmt wurde. Annemarie Wolff-Richter fand eine neue Unterkunft Am Hegewinkel 115 (Zehlendorf), bis sie unter dem Vorwurf der „staatsfeindlichen Tätigkeit durch Erziehung von Kindern in jüdisch-marxistischem Sinne“ im Herbst 1936 erneut verhaftet wurde. Mit Hilfe von Freunden gelangte sie 1937 mit ihrer Tochter und zwölf weiteren Kindern über Prag nach Zagreb, wo sie durch eine Scheinehe eine Arbeitserlaubnis erhielt und ihren Heimbetrieb weiterführen konnte. Erst im Frühjahr 1944 wurde ihre wahre Identität entdeckt und sie im Herbst des Jahres in das KZ Jasenovac eingeliefert. Ihre Tochter Ursula Heuss-Wolff, die zur Enthüllung der Tafel aus Basel kam, war 1957 nach Deutschland zurückgekehrt und heiratete zwei Jahre später Ernst Ludwig Heuss, Sohn des Bundespräsidenten, der 1937 mit bei der Flucht aus Berlin half. Die schmale hochformatige Holztafel ist links an der Fassade des Landhauses (Oranienburger Chaussee Ecke Bieselheider Weg) neben dem Zugang befestigt. Sie wurde am 17.11.2001 enthüllt.“
Jüdisches Kinderheim, spätere Synagoge, am Falkentaler Steig 16 in Hermsdorf. In dem Landhaus Falkentaler Steig 16 befand sich von 1926 bis 1930 das ‚Waisenhaus des Frauenvereins von 1833 zum Besten israelitischer Waisenmädchen‘, von 1931 bis 1935 das ‚Jüdische Kinderheim und Jugendheim Hermsdorf‘ und ab 1935 bis 1938 die Synagoge des ‚Jüdischen Religionsvereins für die nördlichen Vororte‘. 1942/43 war diese Villa ein sogenanntes ‚Judenhaus‘, von dem mindestens 13 Menschen in die Vernichtungslager deportiert worden waren.“ Die Bronzetafel an der rechten Seite der Fassade wurde am 7.11.2008 enthüllt. Vor dem Zugang zum Grundstück sind auf öffentlichem Straßenland acht Stolpersteine zur Erinnerung an frühere jüdische Bewohner in das Pflaster eingelassen.
Dr. Ilse Kassel-Platz in Hermsdorf. Der Platz und seine Gedenktafel erinnern an Dr. Ilse Kassel und ihre Tochter Edith Kassel, die dem nationalsozialistischen Rassenwahn zum Opfer fielen. Der Platz gegenüber ihrem ehemaligen Wohnhaus wurde 2012 nach ihr benannt. Ilse Kassel war Ärztin und wurde als Jüdin von der Gestapo verfolgt. Sie konnte sich der Verhaftung zunächst dadurch entziehen dass sie bei einer befreundeten Familie in der Neumark untertauchte. Als sie nach einer Denunziation dort von der Gestapo aufgespürt wurde, nahm sie sich das Leben.
Evangelische Johanneskirche in Frohnau, Zeltinger Platz Vor der Kirche, auf dem Zeltinger Platz, wurde am 8. November 2000 in Anwesenheit des Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde, Andreas Nachama, eine Gedenktafel enthüllt,, die an die zwischen 1933 und 1945 „verfolgten, vertriebenen und ermordeten“ jüdischen Nachbarn erinnert. Im oberen Teil der Gedenktafel sind die Namen der ermordeten jüdischen Frohnauerinnen und Frohnauer aufgeführt.
Rathauspark, Rathaus Reinickendorf. Eine Skulptur trägt auf einem Sockel die Inschrift „Jede Weltanschauung, die sich auf Gewalt gründet, rädert den Menschen auf ihren Symbolen – Zum Gedenken an die unter nationalsozialistischer Gewaltherrschaft 1933 bis 1945 verfolgten, deportierten und ermordeten Mitbürger“ KZ Reinickendorf in der Flottenstraße. Keine Gedenkstätte erinnert bis heute an das Konzentrationslager Reinickendorf, das ein Frauenlager des KZ-Sachsenhausen war. In der Flottenstraße 28 bis 42 wurden ab August 1944 800 KZ-Häftlinge, vor allem aus Ungarn, untergebracht. In diesem Außenlager mussten die Frauen in Zwölf-Stunden-Schichten schwere Arbeiten und zum Kriegsende vor allem Schanzarbeiten ausführen. Sie wurden von SS-Frauen bewacht. Gegen den Lagerführer, den SS-Scharführer Andreas Vollenbruch, wurde seit 1969 wegen Misshandlung und Mord an KZ-Häftlingen ermittelt. Das Verfahren wurde 1972 nach dem Tod Vollenbruchs eingestellt. Gedenktafel Heilstätten Wittenau
Die Heilstätten in Wittenau wurden Ende des 19. Jahrhunderts als so genannten Irrenanstalten zur Unterbringung psychisch Kranker gegründet. Im Dritten Reich pervertierten sie zu Unterbringungshäusern für Menschen, die von den Nazis und ihrer Rassendoktrin als lebensunwertes Leben eingestuft wurden. Von 1939 bis 1945 haben etwa 15.000 Patienten die Wittenauer Heilstätten durchlaufen, ein Drittel wurde in Tötungs- und Zwischenanstalten verlegt, mehr als 3.000 starben dort. Von denen, die in Wittenau blieben, also nicht verlegt wurden, starben von Januar 1939 bis zum 8. Mai 1945 4.607 Patienten. Die Sterberate unter den jüdischen Patienten war besonders hoch. Ebenso starben überdurchschnittlich viele ausländische Zwangsarbeiter. Der Beweis, dass in den Wittenauer Heilstätten Patienten ermordet wurden, mag nicht gerichtsfest gelingen, er liegt aber angesichts der hohen Todesraten und der bewusst fehlenden Einträge in die Patientenakten nahe. Wittenau war ein Schreckensort der Euthanasie. Geradezu schändlich mutet heute an, dass nach der Stilllegung des Friedhofs zwar die Gebeine einiger Gefallener auf einem anderen Friedhof neu beigesetzt wurden, die sterblichen Überreste vermutlich tausender Opfer der NS-Zeit aber einfach wie an einem verlassenen Ort verblieben. Eine Anwohnerinitiative bemüht sich seitdem um eine würdige Gestaltung des von Bäumen und Büschen bestandenen Hains.“ – Text: Gerd Appenzeller
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