Kiezgespräch
Veröffentlicht am 20.12.2023 von Valentin Petri
Wer das „Kastanienwäldchen“ am Franz-Neumann-Platz betritt, findet sich in einer anderen Welt wieder. Eine, die es draußen auf der Residenzstraße vielleicht gar nicht mehr gibt. Warm und einladend leuchtet das gelbe kleine Haus. Drinnen verleiht die Holzeinrichtung dem Gastraum eine häusliche Wohnzimmer-Atmosphäre. Über dem Säuseln der Tischgespräche tönt der Rock’n’Roll der Rock Highland Line, die hier bereits zum 1137. Mal spielt. Auf der Tanzfläche im hinteren Teil tanzen dichtgedrängt Paare, fast ausschließlich ältere Semester.
Dann tritt Norbert Raeder auf die Bühne. Der Wirt der Kultkneipe spricht aus, was alle Anwesenden schon wissen. „Was wir nie gemacht haben, ist wegrennen. Was wir immer gemacht haben, ist die Situation zu erklären“, sagt er mit schwerer Stimme vor den Gästen und einem Dutzend Handykameras. Das Kastanienwäldchen wird es in Zukunft nicht mehr geben. Heute Abend werde man zum letzten Mal so in der Form beisammen sein. Am 28. Dezember – seinem 55. Geburtstag – muss er den Laden dicht machen und die Räume an den Hausbesitzer übergeben. Nach fast dreißig Jahren.
Die Umstehenden, viele ringen selbst mit den Tränen, sprechen ihm Mut zu, der Kellner bringt ein Taschentuch. Man werde eine Lösung finden, zusammen bleiben sei am wichtigsten, tönt es von allen Seiten. „Das Kastanienwäldchen kann man nicht nochmal erfinden“, stellt Raeder traurig fest. Was die Kneipe für ein besonderer Ort für das Kiez war, sagen an diesem Abend viele. Für Obdachlose gab es in der Kneipe immer ein Glas Wasser und etwas zu essen, für Einsame an Heiligabend Gemeinschaft und für Hilfesuchende Rat und Tat.
Am Abend zuvor sitzt Raeder in einem Zimmer im Reinickendorfer Rathaus. Die Bezirksverordnetenversammlung (BVV) ist gerade vorbei. Der 54-Jährige ist seit vielen Jahren Verordneter, seit einigen Jahren als Parteiloser in der CDU-Fraktion.
Raeder beginnt zu erzählen, was er in den letzten Wochen und Tagen sicher oft erzählen musste: Bereits im Sommer erhielt er überraschend die Kündigung zum Jahresende. „Es ist so unfassbar traurig.“ Das Schlimmste war: Einer der Vermieter, so dachte Raeder, war sein aller bester Freund. So einer, mit dem man verreist und alles.
„Die letzten drei Jahre seit Corona habe ich so für das Kastanienwäldchen gekämpft.“ Alles – Rücklagen für die Rente, das Erbe seiner Mutter – hat er in die Kneipe gesteckt, vor ein paar Jahren eine nigelnagelneue Küche eingebaut. „Ich bin immer sauber geblieben, habe mich bemüht, mir nie etwas zu Schulden kommen zulassen.“
Nach dem Kündigungsschreiben habe mit der Hausverwaltung Kontakt aufgenommen. Die hätten ihn monatelang hingehalten. Dann hat es endlich ein Gespräch gegeben: Die Besitzer boten statt der Kündigung eine Mieterhöhung an – um das Doppelte. Siebentausend bis Achttausend Euro mehr müsste Raeder erwirtschaften, um die gestiegene Miete zu zahlen. Selbst wenn das drin wäre, würde er ein schlechtes Gefühl haben jeden Monat so viel Geld an solche Leute zu überweisen.
Ein Paketzusteller würde den Laden sofort nehmen und dort einen Paketshop öffnen, hätten ihm die Verwalter gesagt. Ein Paketshop. Im Kastanienwäldchen. Raeder ringt mit der Fassung.
Er wirkt erschöpft. Erst der monatelange Stress, dann der Medienrummel seit einer Woche. Auf Facebook verkündete Raeder vor ein paar Tagen das Aus des „Kastanienwäldchen“. Was er jetzt erlebe, die Resonanz und wie viele Menschen ihm jetzt helfen wollten: „Das zeigt, wie wichtig dieser Laden den Leuten ist.“
Das wird auch in der Gaststube am Donnerstag deutlich. „Man hat mir mein Zuhause genommen“, erzählt ein älterer Gast, der seit Jahrzehnten kommt. Ihm stehen Tränen in den Augen. Eine „Schweinerei“ sei der Rauswurf, findet Peter Voßberg, der Raeder schon kannte, als dieser noch sein kleines Reisebüro betrieb.
In den Jahrzehnten wurde das Kastanienwäldchen nicht nur eine Institution, sondern auch ein sozialer Anker im Kiez. „Die Probleme haben wir immer als Gemeinschaft gemeistert“, erzählt Raeder.
Einmal kam ein betrunkener Mann ins Kastanienwäldchen und zeigte Raeder einen amtlichen Brief, den er nicht verstand. Das Schreiben stellte sich als Gerichtstermin heraus, bei dem seine über 80-jährige Mutter von der Hausverwaltung endgültig aus der Wohnung geworfen werden sollte. Raeder startete einen Aufruf unter seinen Gästen, übernahm die Mietschulden und im Nu war die heruntergekommene Wohnung mit vereinten Kräften hergerichtet. Die Hausverwaltung aus Amsterdam zog die Kündigung letztendlich zurück.
Ein anderes Mal lud er zwei Obdachlose ein, auf ein Bier im Kastanienwäldchen vorbeizukommen. Als die beiden am Abend kamen, hatte Raeder einen Vermieter organisiert und seine Gäste hatten zusammengelegt, um den zwei Männern die ersten drei Monate Miete zu finanzieren.
Raeder blüht auf, wenn er davon berichtet, welche Geschichten in seiner Kneipe passiert sind. „Solche Momente haben das Kastanienwäldchen ausgemacht.“ Es gibt zu viele, um sie alle zu erzählen.
Und jetzt? Raeder zuckt mit den Achseln. Die Einrichtung werden sie so abbauen, dass sie jederzeit wieder aufgebaut werden kann. Hilfe beim Abbau sei Willkommen. „Im neuen Jahr wird es sicher etwas ruhiger für mich“, sagt Raeder und lächelt.
- Fotos: Valentin Petri
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