Nachbarschaft

Veröffentlicht am 01.04.2020 von Gerd Appenzeller

Katrin Umgelter, 46. Chefärztin in Berlin-Reinickendorf. Hier spricht sie über die Corona-Krise.

„Wir müssen einer Jahrhundert-Herausforderung gerecht werden.“ Das sagte mir eine Frau, die, zusammen mit vielen hundert, wenn nicht vielen tausend Kolleginnen und Kollegen in Berlin vor allen anderen gefordert ist, uns alle, unsere Gesellschaft, durch eine Krise zu führen, wie wir sie noch nicht erlebt haben, und auf die man sich dennoch in kürzester Zeit vorbereiten muss.

Katrin Umgelter ist Medizinerin, Chefärztin für interdisziplinäre Intensivmedizin am Humboldt-Klinikum in Reinickendorf. Geboren ist sie in Aachen, studiert hat sie in München, zwei Praxisjahre in Boston absolviert, und nach einer Zeit als Oberärztin in Passau kam sie im November 2017 nach Berlin ans Humboldtklinikum. „Interdisziplinäre Intensivmedizin“, das ist die Stelle, an der das fachärztliche Können von Chirurgen, Kardiologen, Lungenfachärzten, Internisten zusammenfließt. Es ist die Stelle, an der in Zeiten der Corona-Seuche alle gefordert sind.

Und diese Herausforderung wird alles übersteigen, was Ärzte in den letzten Jahrzehnten in Deutschland erlebt haben. Katrin Umgelter spricht von einem Personalpool für 25 Intensivpflegebetten. Dieses Potential wird jetzt, in einem Neubau, dessen Modernität sie lobt, erst auf 37 Betten gesteigert, muss aber im Katastrophenfall auf 59 bis 60 Betten wachsen. Und der Katastrophenfall, er wird kommen. Katrin Umgelter rechnet in ein bis zwei Wochen mit einem Ansturm, wie es ihn noch nicht gegeben hat, und Ende April, Anfang Mai könnte es noch schlimmer werden.

Es ist eine reine Rechenaufgabe, sagt sie. Exponentialrechnung. Die Zahl der Infizierten und der Schwerkranken wird steigen. Die meisten kommen mit hohem Fieber, mit Husten, und, das ist das Schlimmste, das, was Panik verursacht, mit Luftnot. Um eine sichere Diagnose stellen zu können, wird bei all diesen Patienten zuerst eine Computertomografie, ein CT, der Lunge gemacht. Auch wegen dieser vielen Patienten mit Luftnot, mit Erstickungsangst, brauchen wir weitere Beatmungsgeräte, sagt sie. Die werden aber kommen, ist sie sicher. Und Personal, ohne das die Geräte keinen Sinn haben. Alle planbaren medizinischen Aktivitäten und Behandlungen werden verschoben, so ist die Planung seit Tagen, „dieses Geschäft ist praktisch auf Null“. 25 weitere Krankenschwestern können sich so um die Coronafälle kümmern, hinzu kommt das von den Krankenkassen bereit gestellte Personal des Medizinischen Dienstes. Worauf sie auch zählt, wofür sie auch dankbar ist: Viele niedergelassene Ärztinnen und Ärzte haben sich am Wochenende, wenn die Praxen geschlossen sind, zur Verfügung gestellt, kommen ins Krankenhaus.

Ärzte lernen in der Ausbildung, mit extremen Situationen umzugehen. Sie lernen, am Sterben von Menschen nicht selbst zu zerbrechen, auch wenn jedes Ende eines Lebens immer ein Schock bleiben wird. Der Satz, dass auch Ärzte, Krankenschwestern, Pfleger nur Menschen sind, sagt sich so leicht dahin. Alle, wirklich alle sind hochmotiviert, sagt sie ganz leise, aber auch sie haben alle Sorgen um ihre Familien, die Nerven sind angespannt.  „Meine Vorstellungskraft reicht nicht aus, in Deutschland an Zustände wie in der Lombardei zu denken… vielleicht haben wir ja Glück…“. Mit einer stillen und deshalb umso beeindruckenderen Mischung aus Professionalität, Zuversicht, Empathie und Demut sieht sie dem Kommenden entgegen. Vielleicht haben wir alle ja Glück. – Text: Gerd Appenzeller
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