Nachbarschaft

Veröffentlicht am 05.08.2020 von Gerd Appenzeller

Peter Neuhof, 95 Jahre,  Berlin-Frohnau.

Der Mann, der am Donnerstag in Frohnau seinen 95. Geburtstag feierte, ist Zeitzeuge eines deutschen Lebens von der Weimarer Republik über die Jahre des NS-Terrors, in die Ära der deutschen Teilung und dann durch die nun auch schon drei Jahrzehnte messende Zeitspanne des wieder vereinigten Landes. Und alle diese historischen Phasen hat er politisch hellwach und oft nicht nur als Zuschauer, sondern als Akteur erlebt.

Peter Neuhof, geboren am 25. Juli in Berlin, war kommunistischer Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus und als Sohn einer jüdischen Familie auch Opfer des NS-Rassenwahns – sein Vater wurde 1943 im KZ Sachsenhausen erschossen. Vor dem ehemaligen Wohnhaus der Familie Neuhof in der Zeltinger Straße 65 in Frohnau erinnert heute ein Stolperstein an ihn, an Karl Neuhof.

Peter Neuhof wuchs in einer wohlhabenden Familie auf, der Vater verdiente als Getreidehändler an der Börse sehr gut, man konnte sich Urlaube und Personal leisten. Dennoch waren der Vater und die Mutter, Gertrud, Mitglieder in der KPD, engagierten sich in der Roten Hilfe und dem Arbeitersportverein ASV Fichte und in einer Erwerbslosenküche. Der jüdische Hintergrund der Familie spielte damals, so die Erinnerung, keine Rolle. Das gesellschaftliche und politische Engagement der Eltern aber erfasste den Sohn früh, denn Vater und Mutter bezogen ihn bei politischen Aktionen ein, angefangen vom Verteilen von Flugblättern.

Mit dem beginnenden Boykott jüdischer Geschäfte ab 1933 ging auch das Einkommen des Vaters zurück. Die Neuhofs zogen in eine kleinere Wohnung um. 1938 verlor der Vater endgültig seinen Job, er musste Zwangsarbeit leisten. Sohn Peter ging ins Hermsdorfer Realgymnasium, dem heutigen Georg-Herwegh-Gymnasium, aber als „Halbjude“ wurde er 1942 der Schule verwiesen. Im September des Jahres wurden die ersten jüdischen Familienmitglieder ins KZ Theresienstadt deportiert. Insgesamt starben 16 von ihnen durch die Schoah.

1943 wurden die Eltern wegen anhaltender antifaschistischer Widerstandsarbeit verhaftet, der Vater im KZ Sachsenhausen erschossen. Dass die Mutter überlebt hatte, erfuhr Peter Neuhof erst nach dem Krieg. Der KPD und seinen politischen und gesellschaftlichen Überzeugungen blieb er auch nach 1945 treu. Er begann journalistisch zu arbeiten, und wurde ab 1950 Redakteur beim Berliner Rundfunk, dem Rundfunk-Sender der DDR. Bis zur Wende 1989 war er deren West-Berliner Korrespondent. Er lebte die ganze Zeit in Frohnau, dem Ort seiner Kindheit und Jugend.

2006 veröffentlichte er das Buch „Als die Braunen kamen – eine Berliner jüdische Familie im Widerstand“. Bis heute berichtet Peter Neuhof als Zeitzeuge über die NS-Zeit im Widerstand, unter anderem bei Vorträgen im Jüdischen Museum und in Bildungseinrichtungen. Er tut es gerne, und stellt im Telefongespräch ganz nüchtern fest: „So viele Zeitzeugen gibt es ja nun nicht mehr.“

Bei diesen Diskussionen und Referaten musste er wegen der Corona-Pandemie in den letzten Monaten allerdings pausieren, wie er mir mit großem Bedauern sagte. Peter Neuhof lebt mit seinem Sohn, der Schwiegertochter und einer Enkelin immer noch in Frohnau (seit 93 Jahren, betont er mit einem hörbaren Lachen), und versorgt sich selbst, putzt seine Wohnung („Schreiben Sie das man bloß nicht!“), kauft ein und fährt Auto. Mit seiner Frau, die vor fünf Jahren starb, war er 68 Jahre zusammen. Dass sie nicht mehr ist, fällt wie ein Schatten auf die vergangenen Jahre eines erfüllten Lebens, aus dem er mir mit hellwacher Stimme erzählt.

Und als ich frage, was er denn im Blick zurück auf dieses Leben und das seiner Familie empfände, sagt er wie selbstverständlich: „Wir waren ganz normale Menschen, während andere anormal waren.“ – Text: Gerd Appenzeller
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