Nachbarschaft

Veröffentlicht am 09.02.2022 von Lisa Erzsa Weil

Beate Hornschuh-Böhm ist Superintendentin des evangelischen Kirchenkreises Reinickendorf, zu dem im Bezirk 16 evangelische Kirchengemeinden gehören. Die gebürtige Freiburgerin hat lange im Rheinland gelebt; in den 80er Jahren hat es sie dann nach Berlin verschlagen, wo sie zunächst in Spandau und Zehlendorf lebte. 2007 wurde sie zur Reinickendorfer Superintendentin gewählt und trat das Amt 2008 an – als erste Frau im Bezirk, die dieses Amt innehatte. Hier spreche ich mit ihr über ihre Aufgaben, interreligiösen Dialog, Martin Luther und die Gleichstellung von LGBTIQ+ in der Kirche.

Superintendentin, das ist ja ein starker Titel. Was bedeutet er, was ist Ihre Aufgabe beim evangelischen Kirchenkreis? Rein dem Wort nach ist es ein Aufsichtsamt. Es soll das ordnungsgemäße gemeindliche Leben und die amtliche Tätigkeit begleiten, beaufsichtigen, unterstützen. Das hat sich ausgewachsen in ein Leitungsamt des Kirchenkreises, das viele Zuständigkeiten innehat: die Personalverantwortung für alle Pfarrerinnen und Pfarrer und für die kreiskirchlichen Mitarbeitenden, die juristische Vertretung nach innen und außen, Haushalts- und Wirtschaftsverträge und die Abnahme der Haushaltspläne. Es geht aber auch um die Kontakte nach außen, zu anderen Religionen, zur Kommune, zum Senat, zur Landeskirche sowie nach innen zu den Gemeinden und ihren Leitungsgremien. Gleichzeitig soll es so eine Art – ich sage es mal ein bisschen großspurig – Richtlinienkompetenz vorgeben. Also: Wo geht die Reise geistlich und mit den finanziellen und personellen Ressourcen hin? Wo sehen wir uns in den nächsten Jahren? Diese perspektivische Arbeit gehört auch dazu.

Welche Rolle spielt die Landeskirche? Sie ist ähnlich wie in Berlin der Senat sozusagen unsere oberste behördliche Leitung. Von ihr kommen auch viele Vorgaben, beispielsweise zu Klimaschutz- und Immobilienprogrammen oder auch zu Gleichstellungsfragen und Fragen nach dem Schutz vor sexualisierter Gewalt. Dazu veröffentlicht die Landeskirche Rechtsverordnungen, die die Kirchenkreise und Gemeinden umsetzen müssen. Hier bin ich dafür verantwortlich, dass das auch geschieht.

Sie haben vorhin die Kontakte zu anderen Religionen angesprochen. Wie kann das aussehen? Es gibt fast überall in den Bezirken interreligiöse Foren, runde Tische, interreligiösen Dialog – das heißt immer mal verschieden. In unserem Kirchenkreis und in Reinickendorf – die Grenzen von Kirchenkreis und Bezirk sind hier identisch – hat der CDU-Politiker Burkard Dregger in seinem Wahlkreis im Lettekiez einen interreligiösen Runden Tisch ins Leben gerufen. Dazu wurden neben uns Evangelischen unter anderem Muslime, Buddhisten, Hindus, Russisch-Orthodoxe und Katholiken eingeladen. Es ging darum, sich über die gemeinsamen Ziele auszutauschen, manchmal sprach man einfach informell, manchmal stimmte man sich ab, ob man sich zum Beispiel bei bestimmten öffentlichen Aufrufen gemeinsam zu einem Statement entschließt. Ein aktuelles Beispiel wäre die Unterzeichnung der Tegeler Erklärung. Oder es gab vor einigen Jahren einen Brandanschlag auf eine Moschee im Lettekiez. Da sind wir zusammengekommen und haben uns gegenseitig vergewissert, dass wir antimuslimischer und antiislamischer Hatespeech entgegentreten.

Der evangelische Kirchenkreis unterstützt die Initiative #OutInChurch von LGBTIQ+ Menschen, die in der römisch-katholischen Kirche arbeiten. Ist das auch in der evangelischen Kirche ein Thema? Vielleicht nicht so sehr wie in der katholischen Kirche und in Gemeinden außerhalb Berlins. Berlin ist da schon sehr liberal, großzügig und fortschrittlich. Wir haben uns als evangelische Kirche 2002, als das Gleichstellungsgesetz der Bundesregierung auf den Weg gebracht wurde, sehr schnell damit beschäftigt, haben die Gleichstellung aller Geschlechter und Partnerschaften in der Kirche diskutiert und am Ende für gleichwertig mit allen anderen Partnerschaften befunden. Das hatte eine ganze Menge Diskussionen ausgelöst, weil es in der Bibel leider fünf, sechs, sieben Stellen gibt, in denen Homosexualität als Sünde verurteilt wird. Wenn man das wissenschaftlich untersucht in den Kontext von vor 2000 Jahren stellt, dann ist das, was dort Homosexualität ist – queeres Leben gab es in dem Zusammenhang glaube ich noch nicht als Ausdruck – nicht die einvernehmliche erwachsene Liebe zwischen zwei gleichgeschlechtlichen Menschen. Was dort beschrieben ist, ist schlicht Pädophilie. Damals konnten sich die Wohlhabenden, Reichen und Mächtigen die sogenannten Lustknaben leisten. Meist waren das sogar Sklaven, Leibeigene. Das hat mit dem, was wir heute unter gleichgeschlechtlicher Partnerschaft verstehen, überhaupt nichts zu tun. Insofern ein großes Ja zu diesen Initiativen zur Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Paare in jeder Hinsicht, auch für jede Art Trauung.

Wie ist es in Reinickendorf? Denken Sie, dass jemand, der Teil der LGBTQ-Community und der Kirche ist, sich offen outen kann? Eindeutig. Sowohl in der Pfarrerschaft wie auch unter den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und den Gemeindemitgliedern sind sie hier alle vertreten. Berlin hat als Landeskirche teils sogar einen gewissen Sog ausgeübt, weil wir ein relativ liberales kirchliches Dienst- und Arbeitsrecht haben. Dadurch gehen bei uns Dinge, die in Baden-Württemberg oder Bayern nicht gehen. Und so können sich Menschen in dieser kirchlichen Ordnung – ob in Kreuzberg oder Reinickendorf – freier und weniger kontrolliert fühlen.

Wie geht es den Reinickendorfer Gemeinden in Zeiten von Corona? 2020, am Anfang der Pandemie, haben die Gemeinden eine unglaubliche Kreativität und Aktivität entfaltet, um den Kontakt zu ihren Mitgliedern zu halten. Da gab es nicht nur die berühmten Video-Gottesdienste und Telefon-Andachten: Es gab Open-Air-Stationsgottesdienste, Musik auf dem Zeltinger Platz in Frohnau, Brief- und Telefonaktionen, Konfirmanden haben sich fürs Einkaufen zur Verfügung gestellt. Ich war ungemein überrascht, was da alles auf die Beine gestellt wurde. Mit dem zweiten Corona-Jahr und den Impfstoffen näherte sich die Hoffnung, wir könnten uns wieder stärker begegnen, weil sonst doch sehr viel Zwischenmenschliches verloren geht. Ganz abgesehen davon, dass das Singen, was vielen Menschen wirklich Freude macht und was in der Kirche sehr stark ausgeübt wird, völlig wegfiel. Die Hoffnung war da und ist dann auch teils eingetreten. Jetzt müssen wir noch etwas Geduld aufbringen. Auf die Mitgliederzahlen hat sich Corona denke ich nicht niedergeschlagen. Allerdings hat mir eine Jugendmitarbeiterin gesagt, wir hätten zwei Jahrgänge von Konfirmanden und Jugendlichen verloren, die sonst auf Freizeiten, Kanufahrten, Pilgerwege, Zeltlager und dergleichen gegangen wären. Die Beschränkungen haben also eine Gewohnheit unterbrochen, von der wir noch nicht wissen, in welcher Form sie wieder auflebt.

In einem unlängst veröffentlichten Dossier des Politologen Dr. Felix Sassmannshausen wurde aufgrund der antisemitischen Überzeugungen Martin Luthers die Umbenennung von nach ihm benannten Straßennamen vorgeschlagen. Was denken Sie darüber? Ich hätte mir gewünscht, dass eine Kontextualisierung vorgeschlagen wird. Denn eine Umbenennung lässt den Namen verschwinden, damit erübrigt sich dann auch eine Auseinandersetzung mit der Person, die dahintersteht. Sie würde Luther auch allein inhaltlich nicht gerecht. Man kann sein Werk, gerade seine großen reformatorischen Schriften sowie andere Reden, Briefe und Predigten lesen, ohne auch nur an einer Stelle auf einen antisemitischen oder antijudaistischen Satz zu stoßen. Ganz im Gegenteil: In den 1520er Jahren, als Martin Luther Mitte dreißig war, verfasste er einen schönen Text, in dem er beschreibt, dass das jüdische Volk der Kirche besonders nahe ist, weil – wie er schreibt – unser Herr Jesus Christus ein geborener Jude war. Auch würde die Tatsache verlorengehen, dass er eine Demokratisierung des kirchlichen Lebens, des Gottesdienstes, des ganzen Kultes bewirkt hat, woran die katholische Kirche heute noch arbeitet. Und dass er die Glaubens- und Gewissensfreiheit für jeden Gläubigen unabhängig von der Institution eingeführt hat. Das ist damals vor 500 Jahren völlig undenkbar gewesen. Was mich besonders an Luther fasziniert, ist seine unglaublich schöne Sprache. Er hat Wörter erfunden, die wir heute nicht mehr vermissen wollen. Nächstenliebe oder das Wort friedfertig sind eine Erfindung von Martin Luther. All diese Dinge würde man gleichzeitig mitverlieren.

Das heißt, Luther war gar kein Antisemit? Es ist für die Öffentlichkeit schwer zu vermitteln, aber Luther war nicht Antisemit, er war Antijudaist. Das ist ein kleiner, aber feiner Unterschied. Er hat an keiner einzigen Stelle die Vernichtung der Juden aus rassischen Gründen befürwortet. Er war Geistlicher und hatte keine weltliche Macht, und das hat er auch bei jeder Gelegenheit betont. Er wandte sich gegen die Juden genau so wie er sich gegen Katholiken, später gegen Muslime, die eigenen Leute wandte. Und zwar in wirklich nicht zu beschönigenden, hässlichen Worten, wenn er sagt, man müsste sie aus ihren Tempeln vertreiben und diese Häuser niederbrennen. Das kann man nach der Reichspogromnacht 1938 so nicht mehr ungeschützt zitieren. Aber er hätte nie gesagt, ‚erhebt das Schwert und macht sie klein‘ oder ‚schickt sie in die Gasöfen‘. Er hat aus religiösen Gründen, so wie er den Katholizismus und die Muslime bekämpft hat, das Judentum bekämpft. Und dazu gehört auch, dass diese härtesten, polemischen, fanatischen Texte in die letzten drei Jahre seines Lebens fallen. Ein berühmter Luther-Forscher sagte mal, für das christlich-jüdische Verhältnis ist Martin Luther drei Jahre zu spät gestorben. Hätte es diese drei Jahre nicht gegeben, müssten wir jetzt nicht so viel aufräumen in seinem Nachlass. Und die sind wirklich mit keiner Silbe zu beschönigen, zu verteidigen, zu rechtfertigen oder zu unterschlagen.

Was ist in diesen letzten drei Jahren geschehen? Luther war in diesen Jahren von der paranoiden Angst besessen, dass sein Lebenswerk zerstört werden könnte: von den Katholiken, Muslimen, Freigeistern, Bauern, Wiedertäufern, Juden, egal von wem. Wenn er irgendwo Widerstand empfand, schlug er um sich. Und was nicht als Rechtfertigung dienen darf, aber subjektiv vielleicht eine Rolle spielt: Luther war zeit seines Lebens schwerkrank. Er hatte Nierenkoliken, später noch andere Krankheiten. Das heißt, er muss gerade in den letzten drei Jahren seines Lebens permanent unter Schmerzen gelitten haben. Das hat ihn nicht altersmilde gemacht, sondern altersfanatisch. Und diese drei letzten Jahre, die insbesondere diese antijudaistischen Texte hervorgebracht haben, sind eine Katastrophe. Aber ich würde sie nicht für das ganze Werk gelten lassen wollen. Das wäre im Sinne einer Kontextualisierung mal zu diskutieren. Man kann am Ende dann doch, wenn man unbedingt will, zu der Überzeugung kommen, wir müssen diese Namen streichen. Aber ich denke noch ist es nicht soweit.

Eine sanfte Frage zum Schluss: Haben Sie einen Lieblingsort in Reinickendorf? So viele! Ich schätze ja sehr, dass es hier so eine wunderbare Verbindung von Wasser und Wald gibt. Das Fließtal ist toll, der Tegeler Forst ist wunderschön, das Havelufer ist traumhaft. Überall wo Wasser und Wald zusammentreffen, finde ich es sehr schön. Und historisch ist für mich auch die Dorfaue Wittenau, wo die Dorfkirche steht, ein unglaublich wichtiger Ort mit ganz viel geballter Geschichte. Ich finde es sehr schön, dass diese Geschichte teils auch noch an den Häusern erkennbar geblieben ist.

Wer soll hier als nächstes vorgestellt werden? Sie selbst? Jemand, den Sie kennen? Wir freuen uns auf Ihre Vorschläge unter: lisa.weil@extern.tagesspiegel.de