Nachbarschaft
Veröffentlicht am 04.05.2022 von Lisa Erzsa Weil
Es ist ein sonniger Tag Anfang Mai. Alles riecht nach warmem Holz, ein Bockkäfer fällt mir auf den Schuh, am Wegesrand blühen Leberblümchen. Der Fußweg von der Bushaltestelle Hubertusweg beträgt nur wenige Minuten, immer mehr taucht man ins Waldleben ein. Es gibt eben Perlen im Bezirk, für die lohnt sich jede Anreise.
Dazu gehört auch der Künstlerhof Frohnau ganz oben an der Grenze zu Brandenburg. Süd- und West-Reinickendorfer:innen sind ein ganzes Stück unterwegs, bis sie den wildromantischen Ort mitten im Frohnauer Forst erreichen. Aber Kaya Behkalam erzählt mir, dass so manche Kunstbegierige sogar aus der Stadtmitte herpilgern. Der Künstler und Filmemacher hat den Hof 1998 mitgegründet und leitet ihn seit 2008.
Am Zaun vor dem Künstlerhof hängen Dutzende Briefkästen im liebenswerten Durcheinander. „Ein beliebtes Fotomotiv“, wie Behkalam mir versichert. Die meisten gehören den Künstler:innen, die Ateliers auf dem Hof anmieten. Auch Behkalam fand zum Hof, als er auf der Suche nach einem Atelier war. Über familiäre Kontakte lernte er Dieter Ruckhaberle kennen.
Der Maler, Museumsdirektor und Kulturpolitiker war der Initiator des Künstlerhofes und Behkalams Vater ein Weggefährte. 2018 verstarb Ruckhaberle, und Behkalam willigte ein, sich „erstmal um Gelände und Verwaltung zu kümmern“. Kurze Zeit später wurde er zum Vereinsvorsitzenden von Künstlerhof Frohnau e.V., dem Trägerverein hinter dem Ort künstlerischen Schaffens. Seitdem hat er mit seiner Arbeit den Künstlerhof geprägt. „Ruckhaberle sah hier einen Ort der Ruhe, der den Künstler:innen ermöglichen sollte, in Frieden zu produzieren“, beschreibt Behkalam die Vision des Hofgründers. „Das ist der Künstlerhof auch geblieben, wir wollen aber auch neue Impulse setzen und den Ort etwas mehr öffnen.“
Das geschieht beispielsweise an den Open Studio Days am ersten September-Wochenende. Gleich einem Tag der offenen Tür können interessierte Besucher:innen dann einen Blick in die Ateliers auf dem Hof werfen. Und auch sonst will man – beispielsweise mit Konzerten und Performances – symbolisieren: Der Künstlerhof ist vielleicht weiter draußen, abschirmen will man sich hier aber keineswegs.
Seine Türen geöffnet hat der Frohnauer Künstlerhof zuletzt auch Menschen in Not. Als der russische Vernichtungskrieg in der Ukraine ausbrach, wollte man eigentlich ukrainischen Künstler:innen einen sicheren Ort bieten, an dem sie auch arbeiten können. „Dann jedoch kam durch Organisationen, mit denen wir in Kontakt sind, ein anderer Hilferuf. Wir bekamen mit, dass afrikanischstämmige Cis-Männer, die allein auf der Flucht aus der Ukraine waren, dringend Unterkünfte suchten und große Schwierigkeiten hatten, etwas zu finden“, berichtet Behkalam.
Seitdem wird die Hälfte eines der Häuser auf dem Hof, in dem auch Vereinsräume sind, für die Geflüchteten zur Verfügung gestellt. Die Flüchtlingshilfe stemmt der Verein hinter dem Künstlerhof allein, beschaffte den Männern – darunter ein Zahnarzt und zwei Profi-Fußballspieler – Deutschbücher, versucht ihnen in Arbeit zu helfen, „und die Künstler:innen bringen mal einen Einkauf vorbei.“ Man hält zusammen.
Tatsächlich ist es nicht das erste Mal, dass der Künstlerhof geflüchteten Menschen Unterschlupf bietet. In den neunziger Jahren wurden hier bosnische Flüchtlinge untergebracht, die vor dem Krieg in Bosnien und Herzegowina (1992 bis 1995; im Rahmen der Jugoslawienkriege) flüchteten. „Ab und an kommen auch Leute vorbei, die damals in irgendeiner Weise hier involviert waren“, sagt Behkalam.
Die Gebäude auf dem Gelände des Künstlerhofes haben so einige Geschichten zu erzählen. Charakteristisch sind die einstöckigen Bauten aus Fachwerk und Backstein, die in den zwanziger Jahren gebaut wurden und als Lazarett und Arbeiterbaracken dienten. Nach dem Krieg wurden sie als Lungenkrankenhaus genutzt, später als Außenstelle der Karl-Bonhoefer-Nervenklinik. Ein bereits existierendes Fundament des Waldhospitals wurde in den 1970ern zum zweigeschossigen Neubau und zur forensischen Einheit für Suchtkranke. Die Zäune rund um das Gebäude stehen immer noch, und Behkalam zeigt mir die Löcher rund um die Fenster – „da waren früher Gitter befestigt.“
Der Ort, der einst Menschen Freiheit entzog, bewirkt heute bei den Künstler:innen, die ihr Atelier auf dem Hof haben, das Gegenteil. „Er gibt mir Weite für den Kopf, und das schafft Weite für meine Arbeit“, beschreibt es Malerin Annette Selle. Ihr Atelier war früher der „große Speisesaal“ des Gebäudes – „so hat es mir zumindest Dieter beschrieben. Aber ich habe vorher in einer ehemaligen NVA-Lagerhalle gearbeitet, da erschien mir dieser Raum erst gar nicht groß.“ Doch dann konnte sie sofort anfangen zu arbeiten, „das hat mir gezeigt, der Raum stimmt“, erzählt Selle. Wie sie am liebsten arbeitet? „Ich höre ganz laut Musik: Bach und PJ Harvey.“
- Informationen und Kontakt: www.kuenstlerhof-frohnau.de
- Ausstellung der Preisträgerin des Dieter-Ruckhaberle-Förderpreises 2021, Surya Gied, „Godori – Kampf der Blumen“: noch bis 22. Mai in der Galerie Etage im Museum Reinickendorf (Alt-Hermsdorf 35). Gied hat sich auf assoziativer Ebene mit der Geschichte des Hofes befasst. Die Preisträger:innen des diesjährigen Förderpreises werden am 10. Mai bekanntgegeben.
- Foto: Lisa Erzsa Weil
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